Livereport: Art Rock Festival Reichenbach i.V. Samstag, 15.04.2023

Heute berichten wir vom zweiten Festivaltag in Reichenbach. Mit dabei Dawnation, Overhead, Blank Manuskript sowie Atomic Rooster, Mystery und Gabriell Agudo mit seiner All-Star Band. Beobachtet und aufgeschrieben von Marvin Brauer.

Dawnation

Der Samstag beginnt mit einer Premiere. Weltpremiere im Grunde. Fünf Musiker erwecken die Bühne das erste Mal zum Leben. Für die Neubrandenburger ist es ihr erstes Konzert unter dem Namen Dawnation, obwohl ihre Gründung schon einige Jahre zurückliegt. 1998 hießen sie noch Glistening Dawn, spielten Coversongs, entwickelten dann eigene Ideen, trennten sich und fanden 2017 wieder zusammen. Ein Jahr später dann der neue Name: Dawnation. Fünf Jahre in der Zukunft und eine Pandemie ohne Auftrittsmöglichkeiten später, haben sie nun schon zwei Alben im Gepäck. Die Freude endlich auf einer Bühne vor Publikum zu stehen ist der Band direkt anzusehen. Die Spielfreude tropft ihnen fast aus den Fingern.

Dabei zeigen sie in ihrer neun Songs starken Setlist eine große stilistische Vielfalt. Ja, es ist Prog-Rock aber mit Ausflügen in klassischen und harten Rock, Alternative, sowie eingängigeren Pop. Was hier erstmal diffus klingt, weben Dawnation harmonisch ineinander und fesseln die Frühaufsteher. Grade Sänger Jan Mecklenburg weiß dabei mit stimmungsvoller Bühnen-Gestik das Publikum emotional abzuholen. Nervosität lässt sich niemand anmerken.

Die Lead-Melodien aus den sechs Saiten von Christoph Piel fliegen zusammen mit den Synths von Bert Wenndorff über das Fundament aus Damian Krebs Schlagzeug und den Basslines von Robert Reich. Jeder bekommt seine Momente. „Holes“ oder „Fly“ vom brandaktuellen Album „…Well For The Past“ sind hier Anspieltipps für alle, die sich einmal hineinfühlen wollen.

Schon bevor das Ende verkündet wird, tönt es „Zugabe“ aus dem Publikum, dass schon ein ganzes Stück näher an die Bühne gerückt ist. Positiv fällt auch der Sound auf, der anders als am Vortag, transparent und nicht zu erdrückend aus der Anlage schallt. Eine Premiere am Rande: Dawnation haben den ersten echten Gitarrenverstärker des Festivals auf der Bühne, während am Vortag eher auf digitales Modeling vertraut wurde. Der Durchsetzungsfähigkeit hilft das grade vorne doch merkbar. Mit der Zugabe „Fall“ entlässt die Band ein mehr als positiv überraschtes Publikum zurück in den Tag. Die große Pilgerreise zum Merchandise beginnt.

Overhead

Wer sich anschließend mit neuen Alben eingedeckt hat, kommt grade pünktlich zum nächsten Act: Overhead. Die fünf Finnen musizieren schon seit über 20 Jahren und sind nicht zum ersten Mal hier. Bei ihrem letzten Besuch des Artrock Festivals stand der Verstärker von Gitarrist Jaakko Kettunen in Flammen. Treiben sie es auch heute wieder auf die Spitze?

Im Gedächtnis bleiben werden sicher schon einmal die bunten Shirts und Tücher als Bühnendekoration. Mit dabei haben sie ihr neues Doppelalbum „Telepathic Minds“, samt des 17-Minütigen Titeltracks. Ihre Songs sind vielschichtig und geraten in den meisten Fällen entsprechend lang. Dabei bleiben sie dem Progrock treu, oldschool aber dennoch mit Wiedererkennungswert. Nicht zuletzt durch die Querflöten-Einlagen von Sänger Alex Keskitalo und seiner theatralischen Darbietung.

Kettunen und er sind die Showmen der Gruppe mit großer Bühnenpräsenz. Das bleibt vom Publikum nicht unbemerkt, welches sich den Act nicht entgehen lassen will und schon wieder vollzählig in der Halle versammelt ist. Neben den harten Riffs gibt es immer wieder ruhige Momente und einen röhrenden Vintage-Orgelsound durch den neuen Keyboarder Tommy Eriksson. Auch Drummer Ville Sjöblom trägt zusammen mit Janne Katalkin am Bass zu den treibenden Momenten der Gruppe bei.

Immer wieder holen sie musikalisch weit aus und führen alles dann wieder hymnisch zusammen, garniert mit melodischen High-Gain Gitarren-Soli. Sie lieben die großen Momente. Bevor es zur Zugabe kommt, ergreift Veranstalter Uwe Treitinger das Wort und entschuldigt sich für den Sound am Vortag. Zu laut war es und das könne auch dem besten Mischer nach einem langen Tag mal passieren. Bleibt zu hoffen, dass das klangliche Niveau vom Tagesanfang gehalten werden kann. Nun aber: die Zugabe! Mit „Dawn“ feuern Overhead nochmal die volle Bandbreite durch die Boxen.

Blank Manuskript

Mittlerweile ist es später Nachmittag. Energie wird am Getränkestand und am Grill bei Rauchwurst und Steak wieder aufgetankt. Lecker… aber vielleicht wäre etwas mehr Abwechslung auf eine Dauer von drei Festivaltagen mal etwas zeitgemäßer. Thema Abwechslung: Blank Manuskript. Was hier auf den Teller kommt ist explosiv, überraschend und glitzert. Mit ordentlich Lametta und Pailletten ausgestattet entführen die (wieder mal) fünf Musiker in ihre eigene Klangwelt. 

Zappaesk fliegt die Musik durch den Saal, verändert sich sprunghaft. Doch dann finden sie melodisch wieder zusammen, erinnern dabei gar an Pink Floyd in Solo- wie Gesangspassagen. Gewollter klanglicher Nonsense wird immer wieder zu einer Harmonie oder einem psychedelischen Jam. Ein Break im Reggae-Style beweist: Nichts und Niemand ist sicher. Auch die Instrumente der Österreicher sind divers. Hier finden sich verschiedene Flöten, ein Gong und vor allem das gefühlvoll gespielte Saxophon von Jakob Widerin. Den Gesang teilen sie sich untereinander auf.

Bassist Alfons Wohlmuth wechselt zwischen elektrischem und Upright-Bass. Besonders das zweigeteilte Stück „After The War“ überzeugt mit Melodien und gefühlvollem Solo von Peter Baxrainer. Dominik Wallner an den Keys hängt sich im Laufe der Show seine Keytar um und treibt so in vorderster Reihe mit den anderen die Stimmung in der Halle an. Zusammen springen sie musikalische Haken und enden auch mal im Jazz oder dank Blockflöte in einer gewissen orientalischen Note.

Die Salzburger sind wirklich das unbeschriebene Blatt, nachdem sie sich benannt haben. Neun Stücke packen sie in ihren 75 Minuten langen Slot. Ein Blick in ihre Welt findet sich, abseits ihrer vier Studioalben, etwa auf ihrer eigens vermarkteten Live-Platte „A Live Document“. Die gut gemischten Stücke darauf sind unter anderem beim Night Of The Prog sowie Woodstock Forever 2022 entstanden. Antesten, wenn es mal wieder etwas Neues sein darf. Gewiss die experimentellste Gruppe bisher, auch wenn an diesem Punkt erstmal die Halbzeit des Festivals erreicht ist.

Atomic Rooster

Wer sich von dem bisherigen Line-Up und seiner stilistischen Abwechslung schon etwas überfordert fühlt, darf jetzt die Ohren offenhalten. Es gibt Rock. Classic Rock. Für Veranstalter Uwe sind sie DIE Headliner. Atomic Rooster haben als britische Urgesteine des Genres schon mehrere Mitglieder verschlissen. Einst gegründet wurden sie von Keyboarder Vincent Crane und Carl Palmer als diese die Crazy World of Arthur Brown 1969 verließen. Die heute auf der Bühne stehenden Pete French und Steve Bolton an Gesang und Gitarre stießen ein paar Jahre später dazu.

Zwei Auflösungen der Band später und nach dem Tod von Gründer Crane, erlaubte dessen Witwe den verbliebenden Musikern ein Fortbestehen der Band. Heute spielt die Band mit der Unterstützung von Shug Millidge am Bass, Paul Everett an den Drums und Ross Munro an den Tasten. Letzterer sprang dabei für den eigentlichen Keyboarder Adrian Gautrey ein. Die jungen Musiker liefern ein solides Fundament für die mehr als doppelt so alten Ur-Rocker. Besonders die Orgel-Einlagen sind hervorragend gespielt, sofern sie Gehör finden.

Wer in näherer Reichweite von Boltons Marshall-Verstärker steht, hat keine einfache Zeit über den sechssaitigen Horizont hinauszuhören. Der Techniker zeigt mehrfach vom Bühnenrand an, dass er mit weniger Volumen sehr glücklich wäre. Ein eher symbolisches Einlenken Boltons um geschätzte 1mm des Volume-Potis nach links, verändert entsprechend wenig. Oldschool eben. Sein Gitarrenspiel ist dabei teils schludrig und rotzig wie Jimmy Page im positiven Sinne. Der Gesang geht im Bandgefüge leider ein wenig unter und French muss eher um seine Position im Mix kämpfen. Mit „Breakthrough“ endet das Set der Engländer erstmal würdig.

In den ersten Reihen finden sich andere Gesichter als normalerweise. Die üblichen Verdächtigen scheinen weiter hinten oder außen auf Mystery zu warten, was den Kreis an Zuschauern in der Halle leider etwas klein wirken lässt. Eine Zugabe fordern sie trotzdem, auch wenn das Licht schon hochgedimmt wird. Bolton betritt dann doch die Bühne, kommt ins Gespräch mit einem Fan, dann gibt es leider doch keine Zeit mehr für eine Zugabe. Kurze Verwirrung auf den letzten Metern.

Mystery

Sind die Gäste nun alle verschollen? Nein, zu Mystery geht es wieder in großen Zahlen ins Geschehen. Dabei sind die Kanadier mittlerweile schon Stammgäste des Artrock Festivals. Man kennt sich. Die Truppe rund um Multitalent Michel St-Père gibt es schon seit 1986, auch wenn sie noch vier Jahre brauchen sollte bis das Line-Up sicher auf den Beinen stand.

Bis zu ihrer heutigen Bekanntheit auch außerhalb Kanadas war es ein langer Weg. Außer dem Mastermind St-Père wurden dabei alle Positionen bereits ausgetauscht. Die Fangemeinde in Reichenbach begrüßen sie direkt mit ihrem brandneuen Album „Redemption“. Sänger Jean Pageau führt als gewohnt grandioser Showman routiniert durch das große Portfolio der Truppe. Voller Körpereinsatz und Verkleidungen inklusive. Nur Probleme im In-Ear-Kopfhörer lassen sich erst im Mittelteil des Sets lösen. Zweimal wandert Pageau in Richtung der Techniker.

Wundervoll komponierte Stücke wie das sieben minütige „Where Dreams Come Alive“ zeigen die Stärken der Band. Ruhige Intros mit akustischem Gitarrensound gefolgt von treibenden und knarzenden Basslines sowie Gesangsmelodien, die alles unter einem Hut vereinen. Besonders St-Pères satte Soli, die sich immer wieder mit den Keys von Antoine Michaud abwechseln, setzen dem Ganzen die Krone auf. Auch Pageaus Flötenspiel ist immer wieder eine besondere Note. Drei Bands mit Flöten an einem Tag? Vielleicht auch das schon ein Rekord.

Mystery sind melodischer Prog der höchsten Stufe, den einige Fans nun gar textsicher mitsingen. Die neuen Songs kommen hier gut an, auch wenn die Halle trotzdem ein wenig leerer erscheint als noch vor einigen Jahren. Auch wenn die Band mittlerweile routinierter wirkt, zeigt Sie grade gegen Ende doch große Hingabe und ihre Publikumsnähe. Soweit, dass Zweitgitarrist Sylvain Moineau den Fans seine Gitarre für die letzten Töne vor die Hände hält und schrammeln lässt. Die Menge ist wieder einmal begeistert von ihren Helden und Teile von ihnen verlassen bereits beseelt das Gelände. Ein Fehler, wie sich gleich noch zeigen wird.

Gabriel Agudo

Die Reise geht nach Argentinien. Gabriel Agudo produziert, schreibt Songs, musiziert und singt. Wer das Multitalent nicht durch seine Solowerke kennt, könnte ihn als Leadsänger der Steve Rothery Band schon mal erlebt haben. 2020 brachte er eigenes Material unter dem Albumtitel „New Life“ heraus. Alleine auf der Bühne wird das natürlich schwierig, daher wurde eine illustre Gruppe an Profis ins Boot geholt. Der Mann an den Tasten, Bill Hubauer, ist für seine Arbeit mit der Neil Morse Band bekannt. Gitarrist Fernando Perdomo teilte die Bühne bereits mit Neil Young und Eric Clapton. Agudo begrüßt schon beim Aufbau die erste Reihe per Handschlag. Mittlerweile stehen 45 Minuten Verspätung auf der Uhr. Aufgrund diverser technischer Aspekte macht der Spielplan somit schon der deutschen Bahn Konkurrenz. Als es dann endlich losgeht, sind viele schon in ihre Betten gewandert.

Perdomo an der Gitarre und Drummer Jimmy Pallagrosi hingegen sind hellwach und treiben furios durchs Set. Zu hören gibt es Agudos Kompositionen aber mit „Down and Out“ auch ein Genesis Cover. Angesiedelt ist das alles zwischen melodisch fließenden Sphären und abgehacktem Zick Zack. Funky Jazz Einflüsse gibt es gratis dazu. Prog-Rock der spannenden Art.

Fernando Perdomo scheint in seinem ganz eigenen Universum zu sein. Neben und hinter seinem Amp steht Pappdeko in Form eines Gitarrenhalses und eines Hahns. Soweit so logisch? Er hüpft umher, wirft seine Gitarre auf den Boden, zieht sie am Tremolo-Arm wieder rauf, versunken in seiner Performance. Erstmal Luft holen im kleinen Akustik Set, gespielt im Sitzen. Das melancholische „Free As A Bird“ widmete Agudo seiner verstorbenen Mutter. Anschließend gibt Drummer Pallagrosi ein Solo zum Besten, das in der Simulation eines Motorrads per Bassdrum endet. Mit symbolischem „Gas geben“ per Drumstick. Wie sollte es anders sein.

Noch ist die humoristische Truppe nicht am Ende. „Endless Night“ heißt das Finale. Perdomo greift nach dem riesigen Pappschild hinter ihm, versteckt sich dahinter, hält die Gitarre davor, geht zu Boden, spielt weiter, zieht den Stecker, Ende? Noch nicht. Erst als er mithilfe des Steckers einen Herzstillstand per Rückkopplung simuliert endet dieses wilde Abenteuer. Gabriel Agudo oder auch: „Die Fernando Perdomo Show“. So oder so eine weitere sympathische Überraschung eines starken Festivaltages.

Und morgen lest ihr, wer am Sonntag, beim Festival am Start war. Aufgeschrieben von Roland Koch.

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