Review: Riverside – ID.Entity (2023)

Den Reigen großer Prog-Albenveröffentlichungen 2023 eröffneten RIVERSIDE mit ihrem 8. Studio-Album “ID.Entity” am 20. Januar. Und das ist gleich mal ein Werk, welches mit großer Wahrscheinlichkeit am Ende des Jahres zu den Top-Album des Jahres zählen wird. Nicht nur, weil die Polen inzwischen fest zur Top-Liga des Genres zählen, sondern weil die Band auf “ID.Entity” eine Fülle frischer Ideen offenbart und sich damit sogar ein Stück weit neu erfindet. Aber blicken wir zunächst ein Stück in der Bandhistorie zurück.

Tracklist:

1.Friend or Foe?

2. Landmine Blast

3. Big Tech Brother

4. Post-Truth

5. The Place Where I belong

6. I´m Done With You

7. Self-Aware

Am 21. Februar 2016 stirbt völlig überraschend Pjotr Grudzinski mit nur 40 Jahren an plötzlichem Herzstillstand. Er war Gründungsmitglied und mit den Bandmitgliedern immer freundschaftlich verbunden gewesen. Die stets umtriebige Band wird damit unmittelbar und schonungslos aus ihren Plänen gerissen, das gerade vor einem halben Jahr veröffentlichte Album “Love, Fear And A Time Machine” weiter live zu präsentieren. Unklar blieb lange, ob die Band die mentale Kraft haben würde, diesen Schock zu überwinden und weiter zu machen. Die enorme Kreativität der Band, insbesondere die ihres Sängers, Bassisten und Frontmann Mariusz Duda, trieb RIVERSIDE aber weiter; und ziemlich genau ein Jahr später gab es den ersten Live Auftritt nach dem Tod von Pjotr Grudzinski in Warschau. Im September 2018 erschien dann mit “Wasteland” ein neues Album, in welchem der Tod ihres Freundes in vertrautem, aber düsterem RIVERSIDE-Sound verarbeitet wird. Erst danach wird Maciej Meller als neuer Gitarrist fest verpflichtet, nachdem er schon vom ersten Moment an Pjotr Grudzinskis Platz an der Gitarre im Bandgefüge eingenommen hat.

Legt man nun das Folgealbum “ID.Entity” auf, dann zieht man erstmal die Augenbrauen erstaunt hoch, als uns der Opener “Friend Or Foe?” mit strengem 4/4-Geradeaus-Sound und ringsherum federnden Keyboard Klängen begrüßt. Hat mir der Plattendealer meines Vertrauens wirklich das neue RIVERSIDE Album verkauft oder mir irgendein 80er Pop-Album angedreht? Der Hörer hat hier einen lupenreinen radiotauglichen Pop-Song, in dem aber dann aber eine Vielzahl musikalischer Ideen songdienlich geparkt werden, die richtig Spaß machen. RIVERSIDE erscheint dem vertrauten Hörer wie neu geboren! Ok, wenn dem einen oder anderen Prog Fan diese Anlehnung an den Pop zu weit gehen sollte, dann wird er zum Beispiel mit Titel 2 “Landmine Blast” voll bedient. Das Ding läuft wunderschön konsequent unrund, immer noch stark keyboardlastig, ist aber genau so mit etlichen songdienlichen Überraschungen gespickt. Diese ganzen Neuerungen gehen so weit, dass man besonders in den ersten drei Titeln an so manchen Stellen nur die Stimme von Mariusz Duda als RIVERSIDE identifiziert. Ansonsten meint man, Musik einer anderen Band zu hören.

Richtig lustig ist der Beginn von “Big Tech Brother”, als nach Verlesen eines Erfordernisses der Zustimmung zu Geschäftsbedingungen eine kleine Synthesizer – Blaskapelle zu Ohren kommt. So lustig bleibt es aber hier nicht: “Big Tech Brother” ist aber nach dem beschriebenen Intro ein abwechslungsreicher und dynamischer Rock-Fetzer, der sich dem Gefühl beschäftigt, beim täglichen Nutzen der virtuellen Welt unter ständiger Beobachtung zu sein. Soll man sich auflehnen oder den Kopf in den Sand stecken? Die Intensität des Stückes nimmt im Laufe der Spielzeit auch deutlich zu. 

Grundsätzlich geht es in den Texten auf “ID.Entity” um Identität und Virtualität, es werden mehr Themen angerissen und Fragen gestellt als beantwortet. Den kurzen Albumtitel kann man wegen der Vielschichtigkeit kaum sinnvoll ins Deutsche übersetzen.

Folgend bleibt die Band sich treu und die Musik abwechslungsreich. Rockige Parts, elegische Mitsingelemente für die Konzerte, RIVERSIDE-Melancholie – alles ist dabei. Die ganz großen Überraschungen bleiben aber in der zweiten Albumhälfte aus. So sehr wollte man seine langjährigen Fans wohl doch nicht erschrecken. Das trifft auch besonders auf den Dreizehnminüter “The Place Where I Belong” zu. Der Schluss-Song “Self-Aware” ist ein klasse Rock-Song (der übrigens unter anderem gemeinsam mit “Friend Or Foe” als Single Edit sowie zwei weiteren Instrumental-Stücken  auf der Bonus CD zu hören ist) mit einem schönen längeren elegischen Ende als Hinaus-Gleiten aus Song und Album.

Nicht zuletzt mit diesem neuen Album gehören RIVERSIDE im Jahr 2023 zu den erfolgreichsten und kreativsten Bands des weltweiten Progressive Rock. In vielen Ländern erreichte “ID:Entity” mit Albumveröffentlichung Spitzenpositionen in den Album Charts, beispielsweise Polen Rang 2, Deutschland Rang 4 und Niederlande Rang 9. Soeben haben sie eine USA Tour mit über 30 geplanten Konzerten begonnen. Das muss man aktuell auch erstmal gebucht bekommen! Es ist beeindruckend, die Entwicklung der Band über viele Jahre zu beobachten und zu begleiten. So manche Leser werden sich an ihre ersten Konzerte in der Region vor über 15 Jahren erinnern, als sich die Band durch 100 Zuschauer im proppevollen Bergkeller Reichenbach quetschte, um auf der “Bühne” einen Meter entfernt von der ersten Reihe des Publikums ihr zweites Album “Second Life Syndrome” zu präsentieren. Wie haben sich die Zeiten doch geändert.

Wertung: 8.5 | 10

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