Livereport: Kraftwerk – Theaterplatz Dresden, 14.09.2024

Dresden ist im September 2024 Schauplatz zweier bedeutsamer Ereignisse von höherer Gewalt. Erst stürzt völlig unerwartet ein Teil der Carolabrücke ein (wichtigste Dresdner innerstädtische Nord-Süd Verbindung), und eine Woche danach erlebt die Stadt ein mittelschweres Hochwasser. Genau dazwischen liegt der Termin des mit langer Hand akribisch vorbereiteten einzigen KRAFTWERK-Konzertes 2024 in Deutschland, wobei der Schauplatz des Konzertes beinahe nur einen Steinwurf von der zusammengefallenen Brücke entfernt ist. Und dieses Konzert ist für die Interessenten ein kulturell nicht minder bedeutsames Ereignis als die beiden beschriebenen Ereignisse höherer Gewalt. Dabei meint es trotz großer Befürchtungen im Vorfeld der Wettergott heute richtig gut, denn es bleibt nicht nur der angekündigte Starkregen aus, sondern es gibt vor Konzertbeginn auch noch einen traumhaften Sonnenuntergang um die Semperoper herum zu bestaunen.

Nachdem überpünktlich um 19.55 Uhr die dämonische Roboterstimme mit „GUTEN ABEND MEINE DAMEN UND HERREN – HEUTE ABEND FÜR SIE DIE MENSCH-MASCHINE KRAFTWERK“ das Konzert eröffnet hat, ergießt sich über die Anwesenden auf dem ehernen Dresdner Theaterplatz ein einmaliges und besonderes Konzert für allen Sinnesebenen. Die markanten Pults für die Bediener stehen oben auf dem Balkon über dem Haupteingang des klassischen Semperoper Gebäudes, welcher über ein Baugerüst nach vorn verlängert ist. Darunter ein LED Balken für Schrift- und weiter darunter eine vielleicht 8x8m große Leinwand für Bildprojektionen, welche den Eingang der Oper verhängt. Dem aber nicht genug: die gesamte Front der Semperoper fungiert als Projektionsfläche für Bilder und Filme, die untrennbar zur Musik gehören. So sehen wir auf der vollen Front des Gebäudes, die als Renaissance-Bau für so etwas nicht wirklich vorgesehen ist, beispielsweise Zahlentänze („Nummern“) explodierende Comic-Bilder („Musique Non Stop“), fahrende Züge („Trans-Europa-Express“) oder alte Autos („Autobahn“), um nur mal einige wenige Beispiele zu nennen. Die Band KRAFTWERK trägt leuchtende Anzüge, die so wirken, als seien die Herren mit ihren Bedienpulten verschmolzen. Manches Mal ist dies optisch hervorgehoben bzw. erkennbar, aber oft verschwindet KRAFTWERK optisch inmitten des visuellen Overkills, der sich um sie herum auf der Front der Semperoper abspielt. Als Einheimischer, der schon oft über diesen Platz gegangen ist und sich hier eigentlich in architektonisch klassischer Atmosphäre wohl und aufgehoben fühlt, muss diese ungewohnt fremde Szenerie erstmal verarbeiten.

Wobei diese Optik noch nicht einmal das Highlight dieses Ereignisses darstellt. Der auf dem Theaterplatz wahzunehmende Sound bläst wohl alle Anwesenden um. Nicht nur dass dieser glockenklar zu Ohren kommt. Hier sind Sound-Ingenieure am Werk! Man vernimmt 3D-Soundeffekte, obwohl hinter dem Publikum offensichtlich keine Boxen aufgestellt sind. Das heißt, analog moderner Soundbars für zu Hause, die ihren Surround-Sound auf den Raum programmiert erzeugen, wird hier gezielt mit den akustischen Möglichkeiten des Theaterplatzes und dem Echo der hinter dem Publikum liegenden Hofkirche gearbeitet. Kein ungewollter Hall ist zu hören, nur eins A Klang. Bässe vibrieren auf der Kleidung, obwohl es nicht übermäßig laut ist. Alles ist akustisch stimmig. Bei den vielen Konzerten, die der Rezensent über die Jahre erleben durfte, gibt es keine Handvoll Konzerte mit analog herausragenden Klangeindrücken. Ganz ganz großes Ohrenkino.

Klar gibt es seit inzwischen ca. 35 Jahren kaum neue Musik der Düsseldorfer Kultband. Auch viele Filmsequenzen sind vertraut, wenn man schon mal ein KRAFTWERK Konzert gesehen hat. Interessant ist die Setlist trotzdem. So manches ausgewählte Stück überrascht. So habe ich mich persönlich sehr gefreut, dass selten oder nie gesehene Stücke wie „Neonlicht“ oder „Planet der Visionen“ dabei sind. Die meisten Songs werden mehr oder minder in modern überarbeiteten Versionen dargeboten, so dass auch rein musikalisch in den genau 2 Stunden Konzert auch für erfahrene KRAFTWERK Fans keinerlei Langeweile aufkommt.

Als bei „Musique Non Stop“ Ralf Hütter mit einem schlanken „Auf Wiedersehen und Gute Nacht“ als letzter der vier Bandmitglieder die Bühne verlässt, befürchtet man schon – das wars. Denn ein wichtiger Song in der Bandhistorie fehlt noch. Die Herren kommen aber tatsächlich für „Die Roboter“ noch einmal auf die Bühne, heute auch persönlich und nicht wie an dieser Stelle üblich in Form von Roboterpuppen. Dann nach nochmaliger Verbeugung kehrt vom Volksgemurmel durchbrochene Stille auf dem Theaterplatz ein, und auch das spät angehende Platzlicht scheint nicht wirklich zu akzeptieren, dass das Konzert nun vorbei ist.

Wenn man hier lebt, kennt man Dresden vielfach als bieder und an manchen Stellen altbacken, gerade was Entscheidungen zum Thema Kultur angeht. Hier sind die Verantwortlichen der Stadt aber offenbar über sich hinaus gewachsen, dieses elektronische Pop-Konzert von überregionaler Bedeutung auf genau diesem barocken Platz durchzuführen. Hat sich die „Moderne“ über das „Klassische“ durchgesetzt? Meine Auffassung ist eher, dass die Akzeptanz dieses Konzertes an dieser Stelle den Kult der Elektronik-Pioniere von KRAFTWERK unterstreicht. KRAFTWERK sind nicht nur Pop oder elektronische Musik, sondern ist beinahe eine eigene Kunstform. Weltweit wird die Düsseldorfer Band jedenfalls so gesehen. Von da her passt dieses heutige Konzert genau an diese Stelle, weil architektonische Kunst von damals musikalische Kunst von heute vereint und verbunden auf ihr Publikum wirken.

Setlist:

1. Nummern | Computerwelt

2. Heimcomputer | It´s More Fun To Comput

3. Spacelab

4. Ätherwellen

5. Tango

6. Man Machine

7. Electric Café

8. Autobahn

9. Computer Liebe

10. Das Model

11. Neonlicht

12. Geigerzähler | Radioaktivität

13. Tour De France

14. Trans-Europa-Express

15. Planet der Visionen

16. La Forme | Régéneration

17. Vitamin

18. Boing Boom Tschak | Musique Non Stop

Zugabe:

19. Die Roboter

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