Review: Steven Wilson – Hand.Cannot.Erase. (2015)

Ich bin kein ausgesprochener Fan von Steven Wilson. Seine super Bühnenshows werden in meinen Augen überschattet von seiner Bühnenpräsenz, welche ich ich als eine Darstellung „ich hier oben, Ihr da unten“ empfinde. Die direkte Kritik, ja sogar Beleidigung des vor ihm befindlichen Publikums und seiner Musiker Kollegen während den Konzerten (selbst erlebt und von Freunden von anderswo berichtet) mögen andere als englischen Humor sehen, ich empfinde dies als Arroganz.

Release: 27.02.2015 (Kscope)

Das ändert nichts daran, dass er einer der genialsten, mutigsten und erfolgreichsten Musikern unserer Zeit ist, der sich nicht mehr auf die Vokabel PROG festnageln lassen will. Seit dem (noch nicht offiziell ausgesprochenen) Ende von Procupine Tree 2009 wurden 5 offizielle Studio Alben plus diverse Resteverwertungsscheiben und Live Alben unter seinem Namen veröffentlicht, mit „The Future Bites“ steht sein nächstes Oeuvre coronabedingt verspätet mit seinem Release in wenigen Tagen in den Startlöchern. Jedes Album unterscheidet sich teilweise deutlich von seinem Vorgänger; beteiligte Spitzenmusiker der Szene tauscht er nach Belieben aus. Trotzdem ist unter diesen Alben eine klare Entwicklung erkennbar, auf die aber hier nicht eingegangen werden soll.

Steven Wilson hört in der Presse von einem Fall, dass die Leiche einer jungen Frau inmitten der Stadt London in ihrer eigenen Wohnung gefunden wurde, und zwar zwei Jahre nach ihrem Tod. Vor dem Hintergrund, dass niemand sie vermißt zu haben scheint, beginnt er sich Fragen zu stellen, die in das Konzeptalbum „Hand.Cannot.Erase“ münden. Er entwickelt eine Geschichte, die sogar von fiktiven Tagebucheinträgen auf einer eigenen Internetseite flankiert werden. Wie konnte es dazu kommen? Das Mädchen erlebt zunächst eine normale Kindheit und eine erste Liebe, mit ersten Tendenzen zur Vereinsamung („3 Years Older“, „Hand Cannot Erase“). Später wird die Enttäuschung über eine verlorene Mädchenfreundschaft beschrieben („Perfect Life“), dass die Frau den Pflichen des Familienalltags nicht entfliehen kann („Routine“), und dass die sozialen Netzwerke sogar die Vereinsamung verstärkt („Home Invasion“). Das Ganze mündet in einen gefühlten Abschiedsbrief („Happy Returns“); es bleibt offen, ob der Tod suizidale oder andere Ursachen hat.

Musikalisch wird das ganze in traumhaft schöne und vor allem abwechslungsreiche Songs verpackt. Traumhafte PROG Rock Reißer („3 Years Older“, „Ancestral“), zu Tränen rührende Romantik („Perfect Life“, „Routine“), Pop („Hand Cannot Erase“) oder herzzerreißend genial verpackte Solis (besonders „Regret# 9“) werden gebunden, als wäre dieser Stilmix das normalste der Welt. In der hier zusammengestellte Band verdient jeder an seinem Instrument absolute Bestnoten; es die meiner Meinung nach beste die er je hatte: Guthrie Govan (Gitarre), Adam Holzmann (Keyboards), Nick Beggs (Bass), Marco Minnemann (Drums), Ninet Tayeb (Co-Vocals). Aber auch mit punktuellem Sampels und Chor wird gearbeitet.

Jedes verwendete Stilmittel passt perfekt dahin, wo es verwendet wurde. Wir haben hier ein geniales, perfektes und zeitloses Album auf allen Ebenen vorliegen, welches meiner Meinung nach das Beste Album der 2010er Jahre darstellt. Wir bewegen uns hier auf dem Niveau von „The dark Side of the Moon“. Ich habe gar keine andere Wahl als hier ausnahmsweise mit der vollen Punktzahl zu bewerten, und das mit 6 Jahren Abstand nach Veröffentlichung.

Bewertung: 10 / 10

Band:

Steven Wilson (Vocals, Gitarre, Samples)

Guthrie Govan (Gitarre)

Nick Beggs (Bass)

Adam Holzman (Keyboards)

Marco Minnemann (Drums)

Theo Travis (Flöte, Saxofon)

Ninet Tayeb (Co-Vocals)

Tracklist

01 First Regret

02 3 Years Older

03 Hand Cannot Erase

04 Perfect Life

05 Routine

06 Home Invasion

07 Regret #9

08 Transience

09 Ancestral

10 Happy Returns

11 Ascendant Here on…

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