Eine üppige Vorgeschichte für dieses Quartett aus Berlin zu erzählen, das ist sicher nicht mehr notwendig, denn Crystal Palace hat sich inzwischen seit 2010 durch fünf ausgezeichnete Alben an die Spitze der rockigen Musik aus deutschen Landen hochgearbeitet. Und die Betonung liegt klar auf akribische, leidenschaftliche Arbeit. Sie sind auch überregional und europaweit ein Aushängeschild, auch auf den großen Nordseeinseln und gehen nun mit „Still There“ noch einen kreativen Schritt weiter. Nun erscheint das neue Album am 22.05. 2022 über PPR-Records.
Meines Erachtens genau zum richtigen Zeitpunkt. Denn für so ein Projekt braucht man eine stabile, routinierte Mannschaft. Und die haben sie mit Yenz (Gesang, Bass), Frank Köhler (Tastengeräte), Nils Conrad (Gitarren), Tom Ronney (Schlagzeug), genannt in Reihenfolge des Eintritts in die lange Kristall-Palast-Karriere. Mit dem bärenstarken und exzellent produzierten Live-Album „Scattered Over Europe“ hat man Anfang 2021 also sicher nicht zu dick aufgetragen, sondern stellvertretend noch einmal ein deutliches Signal auch hier im deutschsprachigen Raum gesetzt. Wir können es hier bei den Teutonen auch, nämlich nach einer Durststrecke nun wieder mit international überzeugenden Alben unserer lokalen Musik-Szene, wieder mächtig aufhorchen lassen. Genau, da hat das Publikum in vielen Ländern die Horchlöffel hochgestellt.
Die Hintergrund-Geschichte zum Konzept des Albums geht zurück auf ein sehr tragisches Erlebnis das am 08. März 2014 nachmittags im Südosten der Hauptstadt Berlin am Müggelturm seinen Anfang nahm und die Jens Uwe Strutz alias Yenz selbst dort miterlebt hat. Genau zu diesem Zeitpunkt schreibt vermutlich eine junge Engländerin an die Betonwand des Treppenhaus-Flur: „08. März 16:00 Uhr noch lebend“, eine Etage höher, stehen die Worte „Still There“. Er sieht diese besondere Nachricht, aber beachtet sie nicht weiter. Von dem doppelten Suizid am Berliner Müggelturm erfährt Yenz dann einige Tage später aus der Berliner Tagespresse. Die Spuren dieser Tragödie verwischen sich dann wie so oft in der stetig laufenden Zeit. Aber das war für das Quartett der Stoff und die Anregung für das Konzeptwerk Still There . Und da ich inzwischen Yenz etwas besser kenne, bin ich sicher, dass er diesen Hinweis auf kargen Beton nicht grundlos lesen und eine Geschichte daraus entwickeln sollte.
Die Band hat mich früh auf diese Reise des Albums mitgenommen, umso mehr freue ich mich jetzt darüber meine Sicht darlegen zu können. Einer meiner wiederkehrenden Kernaussagen ist, es gibt keine Zufälle. Crystal Palace hat die wenigen bekannten authentischen Fakten in eine geschlossene musikalische Geschichte verwoben und diese auf die bandtypische Art in ausdrucksstarken Kompositionen gekleidet. Es ist tatsächlich textlich und musikalisch ein geschlossenes Werk geworden, auf das die vier Recken sehr stolz sein können. Ich muss euch bei diesem Berliner Quartett nichts mehr über die Qualität der Texte, Instrumentierung, Gesang, Technik erzählen, die ist über jeden Zweifel erhaben, selbst die beiden Promo-Videos als Appetithappen sind Klasse. Aber diesmal sind sie noch einen Schritt weitergegangen. Und das in jeder Hinsicht. Bei jungen Leuten hätte ich gesagt, sie sind erwachsener geworden. Aber bei vier so erfahrenen Musikern spreche ich von kollektivem Zusammenwachsen.
Und ich frage mich auch, welcher progressive Rock-Musiker oder Band im Großraum Berlin hätte diese Geschichte so erzählen können. Ja ich kenne da Jemanden, der war aber am 08. März 16:00 Uhr nicht am Müggelturm südwestlich von Köpenick, es war eben Yenz . Aus der von ihm in die Band getragene Tragödie, entwickelten die Vier zusammen eine fiktive skurril-schöne Geschichte und die wird mit 12 Liedern und fast 80 Minuten in der eigenen Art von Crystal Palace wunderbar erzählt. Eine Geschichte wie sie so auch hätte passiert sein können, oder sogar schon mal so gelaufen ist, irgendwo. Und es ist ein kollektives Werk von allen vier Musikern, das schließt auch die Lyrik, Design, Grafik, Promo und Gäste ein, auch das passt zu diesem Konzept.
Das Album beginnt mit der Einleitung „126 Steps“ , genau diese 126 Stufen auf den Müggelturm die auch Yenz überwunden hat, eigentlich fast das Ende der Geschichte. Untermalt von getragenen Keyboardklängen spricht der verfremdete Yenz , mal ehrlich wer hätte es sonst machen sollen, die beschwörenden einleitenden Worte. Mit „Leaving This Land“ und „A Plan“ beginnt die musikalische Reise und fiktive Geschichte, nimmt sofort ordentlich Fahrt auf. Und schon hier spielt die Berliner Truppe in fast 20-minütiger starker anspruchsvoller Rockmusik ihre Stärken aus, schöne Melodien, ausdrucksstarke und perfekte Soli, passgenaues Zuspiel zwischen den Instrumenten, mehrstimmiger Gesang, wunderbare Texte, vorgetragen von der angenehmen Frontstimme Yenz und gestützt von den Kollegen. Schon hier erinnern mich einige Passagen an verschiedene hochkarätige Geschichtenerzähler der 70/80er. Eine deutsche Band erzählt über eine Reise von England nach Berlin, alles in gutem Englisch und untermalt mit wunderbarer Musik. Das gab es früher auch gelegentlich mal, aber das Konzept wirkt hier frisch, modern und zeitgemäß. Denn es wird die Geschichte einer jungen Frau erzählt, die mit ihren Dämonen des Lebens kämpft. Und das tun auch im Moment sehr viele hier lebende Europäer, aber anderswo in der Welt noch mal verstärkter, real jeden Tag. Mit „Winters End“ geht es ruhiger weiter. Bis hierher muss ich Frank Köhler ein großes Kompliment machen. Seine Instrumentierung begleitet sehr gefühlvoll den Fortgang dieser Reise. Und schon im Intro von „Dear Mother“ spürt man verstärkt durch das betonte Gitarrenspiel von Nils Conrad die Konflikte die häufig zwischen Mütter und Töchter entstehen. Und diese Tochter hat tatsächlich eine Stimme, Roxy Köhler übernimmt sehr professionell diesen Teil als singende Stimme und auch im gesprochenen Dialog mit ihrer Mutter.
Die Geschichte wird in jeder Hinsicht virtuos weitererzählt, mal lebensfroh wie in „Orange Popsicle“ oder etwas bedrückender wie bei „Shadows“ und „These Stairs“ . Mit „The Unquiet Window“ und „Still There“ das große Finale. Oder eben nicht, denn aus dem Gesamtwerk einen Titel herauszustellen ist nicht einfach, da die gesamten 80 Minuten tatsächlich überaus kurzweilig sind, weil durchgängig auf allen Tonspuren hohes Niveau, immer wieder überraschende Elemente, wechselnde brillante Soloteile, tolle instrumentale Duelle. Für mich war schon nach dreimaligen durchhören des Albums überraschend, wie präzise die gesamte Musik immer zum Stimmungsbild der Protagonistin passt, man wird dadurch regelrecht in diese Geschichte hineinsogen. Und das bis zum letzten Ton der Gitarre zum Fade-Out. Nicht überraschend ist das blinde Zusammenspiel der vier musikalischen Freunde, es ist eben immer ein Vergnügen dieses Quartett in Aktion zu erleben. Leute, wir sprechen von einer deutschen Band, die ein großartiges Stück Musik auf internationalen Level am 22. Mai 2022 auf die Reise zu euch schickt. Und ich sage es hier deutlich, ich bin Stolz über so eine Band heute berichten zu dürfen.
Eigentlich meint man jetzt, es ist fast alles zu Crystal Palace und im weiteren Rahmen zu „Still There“ gesagt, aber weit gefehlt. Ich hoffe ich habe euch ordentlich Appetit gemacht auf die fiktive Geschichte und auf ein musikalisches zeitgemäßes Opus, dass man so perfekt und in sich geschlossen selten in die Hände bekommt. Ich habe euch noch viele Lücken zum Entdecken, nachdenken und interpretieren gelassen. Geht zusammen mit den vier symphytischen Jungs aus Berlin selbst auf eure eigene individuelle Reise. Macht eure eigenen Erfahrungen, ihr werdet es trotz einer augenscheinlich traurigen Story dennoch genießen. Ich wünsche euch viel Spaß beim Konsumieren dieses besonderen Werks.
Tracklist:
1. 126 Steps (2:55)
2. Leaving This Land (8:59)
3. A Plan You Can’t Resist (9:58)
4. Winters End On Water (4:16)
5. Dear Mother (7:24)
6. Planned Obsolenscence (4:49)
7. Orange Popsicle Sky (6:45)
8. Shadows (3:53)
9. A Scream From A Wall (4:46)
10. These Stairs (4:25)
11. Unquite Window (10:05)
12. Still There (7:57)
Total Playing Time: (76:12)
Crystal Palace:
Frank Köhler (Keyboards, Gesang)
Jens Uwe Strutz (Bass, Front-Gesang)
Nils Conrad (Gitarren, Gesang)
Tom Ronney (Schlagzeug, Perkussion)
Gäste: Roxy Köhler (Narration, Gesang), Guido Galler (Co-Autor Lyrik)