Livereport: X. ProgDreams 2023 – Zoetermeer, Poppodium Boerderij (07.-09.04.2023)

Das zehnte ProgDreams-Festival in einem der angesagtesten Prog-Tempel Europas, und ich bin das erste Mal dabei. Das Line-up verhieß viel Gutes und so war es doch erstaunlich, dass der Saal weit davon entfernt war, ausverkauft zu sein. Von 190 Besuchern am ersten Abend war die Rede und die Besucherzahl an den beiden folgenden Tagen war sogar noch rückläufig. Vielleicht lag es am Ostertermin. Aber bange machen galt ohnehin nicht, auf die Musik kam es an! Und die kam … für Stone Prog berichten Rolf Schneider (Text) und unser lieber Kollege Bodo Kubatzki (Foto).

Freitag:

Supersister Projekt

Den Auftakt machte die niederländische Band Supersister Projekt. Drei schon etwas in die Jahre gekommene Musiker betraten die Bühne. Deren Alter war kein Wunder, da die Band bereits 1967/1968 gegründet wurde und zwei der Gründungsmitglieder noch vor uns standen. Der Kopf der Band, Robert-Jan Stips, zuständig für Gesang und Keyboards, gab den Harald Juhnke auf Mineralwasser. Mit Nonchalance und offenkundig viel Humor kündigte er die Stücke an. Leider (für mich) bzw. glücklicherweise (für die anwesenden Niederländer) tat er dies auf Niederländisch. Auch wenn ich nur Brocken verstand, die enthusiastische Reaktion des Publikums um mich herum auf seine Ansagen war eindeutig. Mit seinen beiden Bandkollegen (Bass, Drums) lieferte er eine Mischung aus Retro-Prog und Fusion ab, die manchmal etwas schräg und dann wieder sehr harmonisch klang. Auch hier setzte sich der Humor fort, sodass der Spaß am Zuhören eindeutig überwog. War Stips’ Stimme altersbedingt den Anforderungen dieser und jener Stücke nicht mehr ganz gewachsen – egal, dies war in jedem Fall ein guter Auftakt dieses Festivals!

Lazuli 

Die fünf dauertourenden Franzosen fingen 20 Minuten früher als geplant an und hörten dafür 20 Minuten später auf. Den Besuchern des Festivals war dies keineswegs egal, sie lechzten geradezu danach! Der Auftakt ihres Konzertes war für Lazuli-Verhältnisse eher verhalten. Melancholische Stücke, darunter aus dem neuen Album Onze, überwogen, ohne dass der ganz große Funke übersprang. Dies änderte sich dann, als Lazuli die Stücke des Albums Le Fantastique Envol de Dieter Böhm spielten. Prompt nahm die Stimmung im Saal ihren Anlauf, der Lazuli-Konzerte so auszeichnet. Brillant klang einmal mehr die Gitarre des Neu-Mitglieds Arnaud Beyney, der seinen Vorgänger am Instrument vergessen machte (wie hieß er doch gleich? Moment, ich hab’s gleich, nein, doch nicht …). Zur weiteren Begeisterung trug Mastermind Dominique Leonetti bei, der sogar mit seinen bestenfalls rudimentären Englisch-Kenntnissen beim Publikum punkten konnte. Ein paar ältere Stücke hinterher und bei Les Courant Ascendants und den anschließenden Improvisationen von Keyboarder Romain Thorel und Drummer Vincent Barnavol lagen alle im Saal auf den Knien. Und sollte jemand noch nicht begeistert gewesen sein – die abschließenden Xyolophon-Einlagen gaben auch diesen den Rest. Eigentlich wie immer bei Lazuli – das macht ihnen niemand nach!

Samstag:

For Absent Friends

Wie am Vortag lag die Eröffnung bei einer niederländischen Band. For Absent Friends nennt sich die fünfköpfige Formation. Dass sie damit an das gleichnamige Genesis-Stück erinnern, ist kein Zufall. In den 2010er Jahren hat die Band unter dem Namen Squonk Genesis-Tribute-Shows gespielt, nun ist sie unter neuem/altem Namen (For Absent Friends existierte seit 1990 und hatte sich um das Jahr 2010 herum in Squonk umbenannt) mit eigenem Material unterwegs. Und dieses stellte sich als musikalisch ordentliche Mischung aus NeoProg und AOR heraus.

Die Stücke waren melodisch-harmonisch angelegt und gingen gut ins Gehör oder, besser gesagt, wären gut ins Gehör gegangen, wenn der ansonsten sympathisch wirkende Sänger Hans van Lint an diesem Tag stimmlich etwas besser präsent gewesen wäre. Er sang immer etwas neben der Spur her und konnte so der Qualität der Instrumentalisten, insbesondere des Gitarristen Edwin Roes, leider nicht ganz folgen. Die Mehrheit der Zuhörer konnte aber offenbar ganz gut damit leben, wozu sicherlich die umfangreiche, in Niederländisch geführte Kommunikation van Lints mit dem Publikum ihr Scherflein beitrug.

Ebony Buckle

Der Name Ebony Buckle war mir bislang völlig unbekannt. Da ich mich gerne überraschen lasse, ging ich wie üblich unvorbereitet an den Auftritt dieser schottischen Band heran. Eine junge Sängerin mit Namen Ebony Buckle, die auch das Keyboard bediente, ein ebenfalls junger Gitarrist und sonst niemand weiter standen auf der großen Bühne und wirkten etwas verloren.

Die Frau griff in die Tasten, öffnete den Mund – und ich sank fast auf die Knie. Was hier zu Gehör kam, war eine Stimme, wie ich sie bisher nur von Kate Bush oder Marjana Semkina von Iamthemorning kannte. Das Wort „betörend“ traf es exakt. Die Stilrichtung der Musik? Bei dieser Stimme egal! Dass die Drums über Band eingespielt wurden? Auch egal! Eine Stimme, so sauber konturiert, kongenial das Keyboard-Spiel, wunderbar von der Gitarre begleitet – dies war ohne Zweifel ein magisches Konzert. Die Stücke getragen-atmosphärisch, mal nachdenklich, mal hymnenhaft, nie banal – Ohr, was willst Du mehr? Dass die Stücke einleitend von der Sängerin erläutert wurden, gab diesem Auftritt den letzten Schliff.

Antony Kalugin (Sunchild/Karfagen)

Der Ukrainer Antony Kalugin, einer der fleißigsten Komponisten im Progressive Rock, kam mit großer Kapelle (sechs Musiker und Musikerinnen) nach Zoetermeer und ließ diese für den Soundcheck vollständig auf der Bühne antreten. Dieser Soundcheck wurde mit zwei kompletten Stücken durchgeführt, wobei Kalugin, nur mit Mikro bewaffnet, beim zweiten Stück von der Bühne stieg, durch das Publikum wanderte und eine Besucherin erfolgreich zum Mitsingen animierte. So ungewöhnlich dieser Auftakt war, so großartig wurde das gesamte Konzert, das einen Querschnitt durch sein umfangreiches Werk bot.

Die Musiker sowie die Background-Sängerinnen handverlesen, Kalugins Stimme sehr angenehm ins Ohr gehend, sein brillantes Keyboard-Spiel, das zwischenzeitlich die Grenze zur Klassik nicht nur berührte, sondern auch überschritt – das war orchestraler Progressive Rock vom Allerfeinsten. Dass er es nach der Klassik-Passage schaffte, das sonst eher zurückhaltende Publikum zum Klatschen und Mitsingen zu animieren und hierzu einen weiteren Ausflug in den Saal unternahm, das war einmalig während dieser drei Festival-Tage. Und so lieferte er ein Konzert ab, das Progressive Rock auf höchstem Qualitätsniveau und dennoch zum Anfassen bot und das Publikum restlos begeisterte. Eindringlich war auch das Finale, in dem die Musiker und Kalugin die ukrainische Flagge präsentierten und den Frieden in ihrem Heimatland einforderten.

Millenium

Alle waren gespannt auf den Auftritt der Polen außerhalb ihres Heimatlandes. Großmeister Ryszard Kramarski bediente wie erwartet eine Batterie Keyboards, am Mikrophon war aber leider nicht Goldkehlchen Lukasz Gall zu hören, der mit seiner samtenen Stimme so manches Millenium-Album veredelt hatte, sondern Dawid Lewandowski, der bereits beim Ryszard Kramarski Projekt den Gesang beisteuerte. Der Katalog ihres Schaffens ist wahrlich umfangreich und sollte ausreichend Abwechslung garantieren. Und so war es auch: Milleniums melodiöser NeoProg wurde flächendeckend über die Bandgeschichte und mit hoher Präzision im Spiel ausgebreitet.

Und trotzdem hielt sich die Begeisterung im Publikum in Grenzen. Applaus ja, Enthusiasmus nein. Dies hatte zwei Gründe und die trugen beide den Namen Antony Kalugin. Dessen vorangegangenes Konzert, noch dazu in vergleichbaren musikalischen Hoheitsgewässern unterwegs, schlug das von Millenium in den Kategorien Spielfreude und Einfallsreichtum doch deutlich. Der zweite Grund war die Wahl des Sängers. Dieser bemühte sich redlich, seinen Teil zum Gelingen des Auftritts beizutragen, konnte an diesem Abend aber weder an die stimmlichen Qualitäten eines Lukasz Gall noch an diejenigen des Ukrainers Kalugin heranreichen. Letztlich war der Auftritt von Millenium nicht schlecht, konnte aber weder an das vorherige Konzert anknüpfen noch die zumindest bei mir hoch gesteckten Erwartungen erfüllen.

Solstice

Kam Antony Kalugin mit großer Kapelle, so waren die Briten von Solstice mit ganz großer Kapelle auf der Bühne. Acht Musiker, darunter zwei Background-Sängerinnen (eine davon die zuvor schon aufgetretene Ebony Buckle) und eine Violinistin, sollten für einen großartigen und reibungslosen Ablauf des Konzerts sorgen.

Das hatten sie aber offenbar der Gitarre von Andy Glass, dem Sänger und Gitarristen der Band, nicht deutlich genug mitgeteilt. Denn die quittierte den Einsatz bereits nach dem ersten Stück und wehrte sich anfangs auch gegen jegliche Reparaturversuche. Während Andy Glass dies mit einer beneidenswerten Ruhe hinnahm, schalteten Drummer und Bassist schnell und überbrückten die sich lange hinziehende Unterbrechung mit Rhythmus-Einlagen, die das Publikum mitrissen, und die Sängerin Jess Holland sowie die Background-Sängerinnen tanzten dazu, als würde es kein Morgen geben.

Als die Gitarre dann wieder ihren Dienst antrat, waren die Zuhörer somit in der richtigen Stimmung, um einem großartigen Konzert zu lauschen. Was Solstice danach darboten, zeugte von purem Spaß an Musik und Gesang. Diese Mischung aus Folk, Prog und Calypso-Elementen ging ins Bein und begeisterte das anwesende Publikum. Ein toller Auftritt zum Ende des zweiten Tages!

Sonntag:

Yuval Ron

Drei Musiker vom Planeten Uranus – so wurden sie dem Publikum angekündigt. Ihre optische Erscheinung – in NASA-Anzügen gewandet – widersprach dem zumindest nicht. Dabei handelt es sich bei Yuval Ron um einen durchaus irdischen Gitarristen und Komponisten aus Berlin, der mit seinen beiden Mitstreitern an Bass und Drums einen Höllenritt durch modernen Jazzrock ablieferte, gewürzt mit einer guten Dosis Prog.

Dass das nicht immer nur harmonisch ablief (musikalisch, wohlgemerkt), lag fast schon in der Natur der Sache, denn der Focus lag auf Jazz. Auch wenn dies nicht jedermanns Geschmack im Saal traf, so waren doch die Präzision der Gitarrenarbeit und die komplexe Bedienung des Schlagwerks sehr bemerkenswert.  Auf jeden Fall handelte es sich um ein Konzert, das der Bezeichnung „progressiv“ alle Ehre machte.

Kyros

Die zweite Band dieses letzten Tages war Kyros aus Großbritannien. Auf die Bühne traten drei Musiker sowie eine Musikerin, die nicht nur musikalisch (Keyboards, Gesang) im Mittelpunkt stand, sondern auch die Blicke auf sich zog. Vor zwei Jahren war sie nämlich noch als Adam Warne aufgetreten und nun als Shelby Logan Warne. Der Musik von Kyros hatte diese Metamorphose keinen Abbruch getan.

Die Band spielte Stücke, die von ihren musikalischen Vorbildern beeinflusst wurden, die sich von Genesis und Rush bis hin zu Tears for Fears erstrecken. Und so wurde hier eine Mischung aus ArtRock und ArtPop geboten, die angenehm leicht ins Ohr ging, trotzdem nie banal klang und den Spaß widerspiegelte, den die Band beim Musizieren hatte. Dieser Spaß übertrug sich schnell auf das Publikum, das den Auftritt von Kyros mit großem Applaus und anschließend mit reger Einkaufstätigkeit am Merch-Stand quittierte. 

RanestRane

Was soll man dazu noch sagen? Vier großartige Musiker um den ebenso sympathischen wie charismatischen Sänger und Schlagzeuger Daniele Pomo, ein hochintelligentes musikalisches Konzept der (Neu-) Vertonung von handverlesenen Filmklassikern und dazu noch die optisch optimale Präsentation der begleitenden Filmausschnitte – da gab es nichts, aber auch rein gar nichts an diesem Abend zu meckern.

Erstaunlich ist immer wieder die Präzision, mit der die vier Italiener ihre Einsätze passgenau zu den hinter ihnen ablaufenden Filmsequenzen finden. Und dass der Schlagzeuger den Gesang beisteuert, findet man auch nicht alle Tage. RanestRane lieferten an diesem Abend einen Auszug aus jedem ihrer Alben (ausgenommen lediglich The Wall) und wurden immer wieder von den Anwesenden begeistert gefeiert. Dass die ihnen zur Verfügung stehende Stunde viel zu kurz war, war ein Wermutstropfen, der angesichts einer anstehenden Tour mit zwei Terminen in Deutschland jedoch nicht ganz so bitter schmeckte. Am Rande des Konzerts kündigte Daniele Pomo an, dass es von RanestRane keine weiteren Filmvertonungen mehr geben werde und man an einem neuen Konzept arbeite. Welches dies ist, behielt er einstweilen für sich. Man darf also gespannt sein!

Galaxy

Den letzten Abend eröffnete die niederländische Band Galaxy, die von 1983 bis 1997 existierte und nach 25 Jahren Pause im vergangenen Jahr mit der Präsentation eines bislang nicht veröffentlichten Albums wieder auf sich aufmerksam machte. Im Mittelpunkt des Konzerts stand der Bassist und Sänger Bart Schwertmann, der bereits bei der niederländischen Proginstitution Kayak zum Mikrophon gegriffen hatte und somit dafür garantierte, dass das einheimische Publikum von Minute Eins an den Musikern Ovationen entgegen brachte. Geboten wurde eingängiger Progressive Rock im melodischen Gewand bis hin zu metallischen Passagen, die sich aber sehr gut in die Abfolge der Stücke einpassten.

Icefish

Zum guten Schluss des Festivals ließen es Icefish noch einmal richtig krachen. In der klassischen Viererbesetzung mit Gitarre, Bass, Keyboard und Drums heizten die vier Musiker mit Wohnsitzen in zwei Ländern (USA und Italien) dem Publikum mit Progressive Rock der metallverarbeitenden Sorte ordentlich ein. An den Drums saß kein Geringerer als Schlagzeug-Legende Virgil Donati, der an diesem Abend zeigte, dass er noch besonders hart und schnell auf sein Arbeitsgerät einschlagen kann.

Da sich die Musik von Icefish im Wesentlichen über Gitarre, Bass und Drums definiert, hielt sich das Keyboard eher dezent im Hintergrund. Die Stücke waren ähnlich aufgebaut und eher wenig abwechslungsreich. Umso überraschender war die Aufführung des Yes-Klassikers Owner of a Lonely Heart, der mit viel Druck, Drall und Geschwindigkeit zu Gehör gebracht wurde und auch bei denjenigen vor der Bühne, die es nicht so sehr mit Metallischem haben, Begeisterung auslöste. Und so war es doch ein versöhnlicher Ausklang eines qualitativ anspruchsvollen Festivals, das die immense Spannweite der Spielart Progressive Rock widerspiegelte.

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