JON ANDERSON ist eine von vielen Ikonen des Progressive Rock der ersten Stunde, die in die Jahre gekommen sind. Er war Komponist, Sänger und Seele bei YES, einem der Mutterschiffe des Progressive Rock. Die hochkomplexe, aber trotzdem eingängige Musik, die er kreativ wesentlich mitverantwortete, vor allem aber seine besondere, hohe und charismatische Stimme prägt inzwischen Generationen von Fans des gesamten Genres. Er lebt seit langem in der Nähe von Los Angeles und wird im Oktober 2023 schon 79 Jahre alt. Er erfreut sich zwar offenbar bester Gesundheit; es ist aber nicht sehr wahrscheinlich, dass er nach dieser Tour noch einmal zu umfangreichen Live-Aktivitäten nach Europa kommt. Dies bewog uns alles in Bewegung zu setzen, um unter der Woche ins tschechische Brno zu reisen, den für uns passendsten Termin der aktuellen Europa-Tour.
Wenn wir über JON ANDERSON sprechen müssen wir über YES sprechen. Er war Gründungsmitglied und gehörte der Gruppe bis auf ein paar wenige Jahre Pause um 1980 herum kontinuierlich an. Etwa 2008 herum stieg er primär aus gesundheitlichen Gründen aus. Trotz er wieder vollständig genesen und weiter kreativ unterwegs ist, kamen die Band und er bis heute nicht wieder zusammen. Die Diskussionen um Wert und Wirkung der Musik dieser Prog Heroen in der Zeit ohne ihn halten bis heute an. Auch wenn man der heutigen Band mit dem Namen YES (inzwischen ist mit Steve Howe nur noch ein Mitglied der klassischen Besetzung der 70er dabei) immer wieder eine Chance gibt – ohne JON ANDERSON entfaltet die Band nur noch ein laues Lüftchen, wenn man sich vor den Boxen zu Hause oder am Bühnenrand befindet. Was dagegen der Ex-Sänger, egal mit welcher Begleitung, bei seinem Publikum emotional bewirken kann, wird der heutige Abend wieder beweisen.
Die PAUL GREEN ROCK ACADEMY, die JON ANDERSON auf dieser Tour begleitet, arbeitet mit dem Meister bereits seit schon sage und schreibe 18 Jahren zusammen. Diese Tour hier hat angeblich 5 Jahre Vorbereitung gekostet. Die Musizierenden sind 15-20 Jahre alt, Schüler/Studenten dieser Academy, offenbar an ihren Instrumenten hervorragend musikalisch ausgebildet und üben auf der Bühne verschiedene musikalische Funktionen aus. Es gibt zahllose Coverbands beispielsweise von PINK FLOYD oder GENESIS, aber kaum welche von YES. Dies mag auch daran liegen, dass das Material extrem schwer zu spielen ist. Und das ist nur eine Seite der Medaille – die Fans erwarten neben musikalischer Perfektion auch stets Authentizität, Seele und Bombast…. Um es vorweg zu nehmen: die jungen Leute hier bekommen all das hin!!!
Im Durchschnitt sind pro Song 10 Leute auf der Bühne, die zwischen den Stücken in einem offenbar hoch organisierten Gewusel schnell Instrumente und Positionen wechseln und dann nahtlos das nächste Stück beginnen. In der ersten Dreiviertelstunde passiert das noch ohne JON ANDERSON, aber auch ohne YES Stücke. Allerdings verbreitet so mancher Gitarrenpart in diesem Teil schon ein YES-nahes musikalisches Empfinden. Mehr oder weniger bekannte Welthits werden zu Gehör gebracht. Beispielsweise die junge Dame die „Superstition“ singt, klingt doch tatsächlich wie der junge Stevie Wonder. und zwei Saxofone als Begleitung tun das Ihrige, um den Song ziemlich nahe am Original darzubieten. Das Programm der PAUL GREEN ROCK ACADEMY ist gut anzuhören und macht Spaß. Hervorzuheben ist noch die Darbietung von „Got A Match“, im Original von Chick Corea. Das ist schneller Jazz und rein spielerisch absolute Oberklasse. Hut ab: als ihre eigene Vorband haben es die Kids der PAUL GREEN ROCK ACADEMY schnell geschafft, das Eis zum zu brechen, was bei so einer eigentlich wundersamen Begleitband eines JON ANDERSON auch notwendig ist.
Nach einer Viertelstunde Atem holen ist es für die 700 Gäste im voll bestuhlten wunderschönen SONO Club endlich soweit: JON ANDERSON schwebt zwischen den bereits auf der Bühne befindlichen Jugendlichen hindurch an sein Mikrofon und beginnt seinen über die Jahrzehnte unverändert wunderbaren hochtönenden und sphärischen Gesang. Keine Ahnung was der Kerl hat: Talent? Eingebung? Gottes Gabe? Er singt in Begleitung einer äußerlich wilden Horde von Schülern, und bei uns langjährigen Fans kommt mehr Authentizität in Herz und Hirn an als bei jeder anderen musikalischen Präsentation von YES Musik in den letzten knapp 20 Jahren ohne ihn. Dieser Abend de facto ist ein großartiges und hochemotionales YES Konzert mit auch nur einem Originalmitglied, genau wie bei der heutigen Gruppe mit diesem Namen.
Nicht vergessen werden darf natürlich die „Band“, die heute den Sound zur Stimme kreiert. Man hat ein Gefühl, als ob hier und heute ein Staffelstab im Progressive Rock von alt nach jung übergeben wird. Alle sind konzentriert, aber locker und mit viel Spaß auf der Bühne. Der Schulleiter PAUL GREEN ist höchst selbst mit zugegen. Er moderiert seine Academy in Vorprogramm an, stellt die Zusammenarbeit mit JON ANDERSON und am Ende des Abends seine insgesamt fast 30 Musiker vor. Ungewöhnlich: bei so manchem Stück kommt er auf die Bühne und greift ordnend bzw. dirigierend in die Unternehmung ein. Klar wirkt das optisch störend, aber eine Selbstdarstellung möchten wir PAUL GREEN nicht unterstellen. Im Gegenteil: beispielsweise bei den komplexen ineinander greifenden Solos in z.B. „The Fish“ gibt er die Einsätze für die betreffenden Leute und sorgte so dafür, dass das Spiel organisch zusammen bleibt und nicht in musikalischem Chaos endet.
Die Setlist ist klug gebaut. Es beginnt mit dem fetzigen Intro von „Heart Of The Sunrise“, nahezu unbemerkt von vielen endet das Konzert auch mit dem End-Riff dieses Stückes. Man staunt, dass auch Welthits ohne YES-Beteiligung eingebaut sind. Aber bevor dem Konzertbesucher nach der Ankündigung von z.B. EMINEM die Schultern enttäuscht ins bodenlose fallen – diese Welthits eröffnen jeweils nur zu YES-Stücken! Das ganze scheint wohlüberlegt, denn irgendwie passen diese „anderen“ Intros dazu. Spannend ist weiter, neben Qualität und Quantität der Leute auf der Bühne, die gesangliche Arbeit des Unternehmens. Unser Eindruck: Klassiker wie „South Side Of The Sky“, „Close To The Edge“ oder „Siberian Khatru“ werden durch den Gesang eines kleinen Chores sogar noch aufgewertet. „Leave It“ vom 90125-Album wird mit derartiger Sangesleistung sogar ohne den Meister dargeboten, ohne dass dem Stück die Kraft des Originales verloren geht. „Mood For A Day“ muss noch gesondert erwähnt werden. Diese akustische Domäne von STEVE HOWE in den Shows des Originals wird hier ziemlich brillant von zwei jungen Damen an Akustikgitarren gespielt. JON ANDERSON nimmt also seine Stimme zurück, um seinen Fans die Illusion und das Erlebnis eines nahezu runden YES Konzertes zu bieten. Wichtig scheint für alle Beteiligten „Nothing Compares To You“ von Sinead O´Connor unmittelbar nach dem Tod als Tribute für die Sängerin aufzuführen.
Das Album „Close To The Edge“, das der Tour ihren Namen gab, wird mit seinen drei überlangen Stücken komplett gespielt, aber nicht extra hervorgehoben. Besonders der Titelsong ist heute eine Offenbarung. Nicht wenige hartgesottene mit YES gealterte Fans wischen sich Tränen der Freude und Ergriffenheit aus dem Gesicht. Nicht nur dieses Stück wird perfekt, komplex und hoch-emotional dargeboten und wird ein lange nachhallendes Konzerterlebnis bleiben.
Wir erleben in Brno den letzten Termin der 2023er JON ANDERSON Europa Tour. Nach Konzertende fallen sich alle in die Arme und machen Selfies miteinander, der Meister explizit eingeschlossen. Auch 15 Minuten nach Konzertende, ein Großteil des Publikums ist schon weg, will offenbar niemand die Bühne verlassen. Hier besonders, aber auch während des Konzerts spürt man: JON ANDERSON zeigt sich nicht als Denkmal, sondern fühlt sich als Teil des Ganzen. Leider hat er für die am Bühnenrand wartenden Fans nur noch ein kurzes freundliches Winken übrig. Aber sehen wir es einem fast 80jährigen Mann nach, dass ihm nach Jahrzehnten des Erfolges ein Bad in der Menge nicht mehr viel gibt. Wünschen wir ihm vor allem Gesundheit. Auch wenn es nun die über viele Jahre gehoffte Wiedervereinigung mit YES nun wohl doch nicht mehr geben wird, JON ANDERSON bleibt kreativ. Neue Projekte sind bereits angekündigt, und vielleicht war es ja doch nicht das letzte Mal, dass wir seine Stimme live bewundern konnten. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Setlist:
Teil 1: PAUL GREEN ROCK ACADEMY
White Rabbit (Jefferson Airplane)
Crazy On You (Heart)
Superstition (Stevie Wonder)
Carey
Have A Cigar (Pink Floyd)
Great Gig In The Sky (Pink Floyd)
Kid Charlemagne (Steely Dan)
Killer Queen (Queen)
Got A Match (Chick Corea)
Roll With The Changes (REO Speedwagon)
Teil 2: JON ANDERSON mit PAUL GREEN ROCK ACADEMY
Heart Of The Sunrise (Excerpt)
Your´s Is No Disgrace
I´ve Seen All Good People
Kashmir/Don´t Kill The Whale
Lose Yourself/State Of Independence
South Side Of The Sky
Fly Away/Long Distance Runaround/The Fish (Schindleria Praematurus)
Owner Of A Lonely Heart
Perpetual Change
Mood For A Day
Leave It
Close To the Edge
And You And I
Siberian Khatru
Lets Dance/Starship Trooper
Nothing Compares To You (Sinead O´Connor)
Roundabout