Eine herausragende Selektion aktueller Prog Bands motiviert uns, im tiefsten mitteleuropäischen Winter zu einem neuen Festival in das doch recht weit von zu Hause entferne Utrecht zu reisen. Ein kompaktes Ein-Tages-Event mit fünf Acts verspricht ein Highlight in nicht nur live-musikalisch tristen Wintertagen zu werden. Zweimal Prog Metal, zweimal Bands mit kunstvoll verspieltem und zugänglichem Art Rock sowie ein klassischer Prog Act versprechen die entsprechende Abwechslung und ein sehr gut gefülltes Haus.
Vorwort:
Die Parkplatzsuche bei Ankunft sorgt trotz Vorbereitung für unerwartete Problemchen. Offenbar wissen die Leute hier, wie sie die Autos aus dem Stadtzentrum bekommen. Nach dem kurzen Fußweg vom Hotel zum TivoliVredenburg, auf dem uns eine schier endlose Kette an Fahrradfahrern begleitet, und unkompliziert schnellem Einlass begrüßt uns der „Grote Zaal“ als wunderbarer Konzertsaal mit der Möglichkeit, Publikum rings um einen Orchesterboden herum auf terrassenformig gebauten Rängen zu platzieren. Gedacht ist der Saal eher nicht für ein Rockfestival, aber der Veranstalter bekam gemäß eigener Aussage eine wohlwollende Unterstützung eines erfahrenen Teams. Der Saal ist durch Abhängen halbiert, der freie Platz vor der heutigen Bühne unten wird als als überschaubarer Stehplatzbereich verwendet. Es gibt nur eine Ticketkategorie, jeder kann damit entscheiden, ob er vor der Bühne abrocken, von einem gemütlichen Sitzplatz das Treiben verfolgen oder auch mal wechseln will. Dadurch entsteht eine aufgelockerte Konzertatmosphäre, ideal für ein Indoor-Festival dieser Größenordnung.
Vorm Betreten des Saales befindet man sich in einem etwas verwinkelt gebautem Ring außen rings um den Saal herum, in dem sich auch das gastronomtische Festivalangebot verteilt. Dies ist nicht unbedingt üppig, aber ok. Beim Orientieren auf dieser Ebene und den Blicken durch verschiedene Eingangstüren in den Saal hinein entdeckt man immer wieder neue Perspektiven, die überraschen und erfreuen. Dieser Rondell-Bereich dient auch dem Treffen von Fans, der Freude sich wiederzusehen und fachsimpeln zu können. Nur der Merch befindet sich eine Etage höher. Nun, da wir das gesamte Umfeld kennengelernt haben, sind wir gespannt auf die Bands und nehmen voller Vorfreude unsere gewählten Plätze ein.
MEER
Pünktlich um 13.45 Uhr eröffnet der Moderator Johann Schoterman (ein herrlich expressiver Typ mit grauen Haaren wie ein wildgewordener Handfeger) das erste Midwinter Prog Festival und kündigt die norwegischen MEER an. Ganze acht Musikerinnen und Musiker betreten die Bühne. Zum festen Instrumentarium gehören Violine und Viola, die nicht als Effektinstrumente, sondern eher als Ersatz des klassischen Rockinstrumentariums verwendet werden. Die Streicher tragen damit gesamten MEER Sound. So ist es beispielsweise auch ein Leichtes, die beim Stück „Honey“ aufgetretenen technischen Probleme zu ignorieren und eine Akustik-Version zu spielen. Trotz einer dadurch erzeugten gewissen Getragenheit der Musik versprühen MEER viel Kraft, Emotionalität und Komplexität.
Präsentiert wird der Auftritt im Wesentlichen von den zwei singenden Geschwistern Johanne-Margarete Kippersund Nesdaf und Knut Kippersund Nesdaf, die auch den Kern der Kreativabteilung von MEER darstellen. Die beiden versprühen mit ihrem zumeist als Duo vorgetragenen Gesang eine Freude und Begeisterung, die sich schnell auf das Publikum überträgt. Es ist einfach mitreißend, wenn die beiden praktisch in ihr Mikrofon schreien und beim Singen alles geben.
Heute muss MEER ihren Stammschlagzeuger durch einen Drummer aus ihrem befreundeten Umfeld ersetzen, denn ihr Trommler Mats Lillehang ist gerade frisch Papa geworden: Entsprechend widmen sie ihren Song „Child“ dem neuen Erdenbürger namens Alfred. Die Band überrascht ansonsten mit einer Setlist, die ihr erstes Album „Meer“ (2016) komplett ausklammert, dafür neben den besten Songs von „Playing House“ (2021) ganze vier neue Songs von ihrem für dieses Jahr angekündigte Album präsentieren.
Die leidenschaftliche Performance wird vom Publikum begeistert aufgenommen und durch frenetischen Beifall zurück gespiegelt. Die Freude der Band darüber ist echt und führte bereits letzten Sommer bei ihrem Auftritt beim Midsummer Prog Festival in Valkenburg zu Freudentränen auf der Bühne. Für so manchen Festivalbesucher ist MEER am Ende der beste Gig des gesamten Festivals. Das deutsche Publikum kann sich auf einen tollen Auftritt beim „Night Of The Prog“-Festival freuen, dann hoffentlich mit dem neuen Album im Gepäck.
Setlist MEER:
Picking Up the Pieces | Take Me To The River | Honey | Chains Of Changes | Across The Ocean | Child | Golden Circle | Today Tonight Tomorrow | Beehive | Lay It Down
Temic
Was müssen die Jungs vor diesem Auftritt aufgeregt gewesen sein. Die durchaus erfahrenen Diego Tejeida (über 10 Jahre bei HAKEN) und Eric Gilette (in ähnlichem Zeitraum festes Mitglied in der NEAL MORSE BAND) eingeschlossen. Die Band, die Musik und das Album „Terror Management Theory“ (veröffentlicht im November 2023) wurde in einem Zeitraum von über fünf Jahren entwickelt – heute und hier ist der erste Auftritt vor öffentlichem Publikum! Man sieht in der Umbaupause auch jedes einzelne Bandmitglied hin und her laufen, testen und schrauben. Sie schaffen es dann gerade mal, alle vor der Anmoderation und dem Dunkelwerden nochmal zu verschwinden.
Beim Albumintro „TMT“ bleibt die Bühne leer, aber erstmals tritt die große Videoleinwand auf der Bühne richtig in Aktion: bei diesem Gig werden erstmals alle Stücke von Filmen unterstützt, welche hier zumeist um Naturaufnahmen herum kreiert sind. Die effektvolle, aber unaufdringliche Beleuchtung, die beim Auftritt von MEER zu verzeichnen war, wird jetzt zugunsten der Videoprojektion zurückgefahren. Am Licht sind Profis am Werk!
Wenig überraschend wird das bisher einzige TEMIC Album komplett präsentiert, „Acts Of Violence“ wird mit einem erweiterten Keyboard-Gitarren-Part eröffnet. Die Band wirkt extrem eingespielt und lässt die Musik 1:1 so erklingen, wie man es zu Hause bereits kennengelernt hat. Diego Tejeida an seinen Keyboards und Simen Sandnes am Schlagzeug tragen dabei die Show. Eric Gilette steht zumeist konzentriert für sein Gitarrenspiel am rechten Bühnenrand, hinter ihm der Gast-Bassist Matteo Raccone wirkt im Bandgefüge während des gesamten Auftritts nicht wirklich integriert.
Dem Sänger Fredrik Bergersen gelingt es nicht so recht, die Show an sich zu reißen. Möglicherweise fehlt ihm noch ein Stück weit die Bühnenerfahrung für ein großes Publikum. Wie auch immer, die Jungs wirken bei der Präsentation ihres Materials leidenschaftlich und authentisch. Ein besonderes Momentum gab es mit dem Schluss-Song „Mothallah“: getriggert durch den auf der Videowand eingeblendeten Text und die gute Stimmung gibt es einen klasse Publikumschor. Auch wenn einen im Saal ein eigenartiges Gefühl beschleicht, dass dieser Chor mit einer Art Art Karaoke-Show erzeugt wird. Egal, wir erleben einen tollen Premieren-Gig. Wir werden sehen, wie die Entwicklung von TEMIC weiter geht und welchen Eintrag in die Geschichtsbücher dieser Tag letztlich haben wird.
Setlist Temic:
TMT (Intro) | Through The Sands Of Time | Falling Away | Skeletons | Count Your losses | Acts Of Violence | Friendly Fire | Once More | Mothallah
Lazuli
Nicht nur so mancher Musikfan ist ein bißchen verrückt, wenn er zum Beispiel, wie in Utrecht gehört, 1.000 € für ein Flugticket ausgibt, um spontan bei diesem Festival dabei zu sein. Beispielsweise LAZULI: die Band steigt am Vortag des Festivals morgens um 4 Uhr in ihrer südfranzösischen Heimat in den bandeigenen Kleinbus, vollgepackt mit ihrem Equipment inklusive eigenem Schlagzeug, um nach 1200 km Anreise um Mitternacht in Utrecht anzukommen. Dasselbe am Tag nach dem Festival wieder zurück, damit am Montag ein Teil der Leute in der Band wieder ihrem regelmäßigen Tagwerk nachgehen können.
Natürlich ist auf der Bühne von diesem Reisestress nichts zu spüren. Die Leidenschaft für ihre Musik und Freundlichkeit der Jungs ist nicht aufgesetzt, die leben das. Egal, ob man sie auf der Bühne beobachtet oder ob man sie im Foyer trifft. So ist das Beiwohnen eines Konzertes von LAZULI für jeden wahren Musikfreund ein Heidenspaß, auch wenn man kein Wort französisch versteht. Neuerdings arbeitet die Bands mit aufwändigen Videofilmen. Die vielfach verwendeten Trickfilme mit manchmal sogar ihren eigenen Konterfeis sind alleine schon wahre Kunstwerke.
Vielleicht lenken diese Filme etwas vom Betrachten der Musizierkunst von LAZULI ab. Denn den Jungs sollte man wirklich aufs Handwerk schauen. Zum Beispiel wie Claude Leonetti seine Leodé spielt (ein einzigartiges nur auf diesen Musiker zugeschnittenes Instrument), wie Romain Thorel an seinem einen Keyboard Manual den wuchtigen Bass wie nebenbei mit seiner linken Hand integriert, oder wie sich schnell sich der „Neue“ Arnaud Beyney an der Gitarre in die an sich sehr familiäre Band eingefügt hat. Oder hat schon mal jemand bei einer anderen Prog Band ein Waldhorn-Solo gesehen?
Das Set besteht im Wesentlichen aus Songs der letzten beiden Alben, plus die beiden Klassiker „Le Miroir Aux Alouettes“ (die Jungs wechseln an ihren Instrumenten) und „Les Courants Ascendants“ (vorbereitet für den großen Publikumschor, der aber diesmal nicht zustande kam). Am Schluss freut sich nicht nur der erfahrene LAZULI-Konzertgast, wenn die Marimba wieder auf längs gestellt wird und alle Bandmitglieder ihr „9 Hands Around The Marimba“ zelebrieren, diesmal mit zwei Beatles Stücken integriert. Zufrieden und mit breitem Grinsen schreiten wir zum Pausenbier, um unseren Flüssigkeitsverlust für die letzten beiden Kracher des Tages wieder auszugleichen.
Setlist Lazuli:
Silloner Des Océans De Vinyle | Triste Carvaval | Qui d’autre que l’autre | Dieter Böhm | Les Chansons | Sont Des Bouteilles Á La Mer | Egoine | Le miroir Aux Alouettes | 9 Hands Around The Marimba
Spock´s Beard
Dieser Auftritt erscheint im Vorfeld nahezu als Sensation. Denn nach letztem Album und Tour 2018 war jahrelanges Schweigen um die Band. Mit einer Rückehr war nicht mehr gerechnet worden, vor allem weil aktuelle und vergangene Mitglieder der Band mit PATTERN SEEKING ANIMALS eine eigene Band gründeten und seitdem hochfrequent neue Alben veröffentlichen. Und doch: nach einer England Tour mit 6 Konzerten, die für die Band sehr aufwändig war und nicht sehr üppig besucht gewesen sein soll, heute als krachender Abschluss ihres Trips in dieser großen Konzerthalle ihr aktuell einziger Auftritt auf dem Europäischen Festland.
Die legendäre US amerikanische Prog Band liefert das, was die Fans dieser inzwischen über 30 Jahre alten Band erwarten: im Set sind zu einem großen Teil Bandklassiker aus den 90ern; insgesamt ist das Set aber ausgewogen mit Songs aus allen Phasen der Band. SPOCKS BEARD beginnen den Reigen mit dem wunderbaren „Go The Way You Go“. Prog Rock wie er kaum schöner sein kann! Die Herren sind auch noch super drauf. Ryo Okumoto und Alan Morse posen was das Zeug hält, Ted Leonard fegt in seinen Sangespausen zwischen diesen beiden Herren hin und her, Dave Meros ist mit seinem großen Bass-Spiel wie immer im Hintergrund und Mike Thorne spielt Drums, als wäre er nicht ein Ersatzschlagzeuger, sondern schon immer und ewig der feste Band-Drummer.
Besser als mit dem 15minütigen Evergreen „The Light“, dem ersten Song von Spocks Beard überhaupt, kann man das Konzert nicht beschließen. Dabei ein Solo von Ryo Okumoto an der Keytar, am Bühnenrand flankiert von Ted Leonard und Alan Morse an ihren Gitarren. Auch findet in diesem Schluss-Song des Sets ein scheinbar ungeplantes Bäumchen-Wechsle-Dich statt: während sich Mike weg von seinem Arbeitsinstrument dem Schießen von ein paar Handyfotos von der tollen Atmosphäre widmet, haben Alan und Dave den Moment einen Heidenspaß, gemeinsam das Schlagzeug zu bedienen.
Nach diesem herzerwärmend großartigen Auftritt wird die Zukunft von SPOCKS BEARD spannend zu beobachten sein. Raffen sie sich nochmal zu einem neuen Album auf? Oder wenigstens zu einer Tour auf dem Europäischen Festland? „We´ll be back“ ist in sozialen Medien nach dem Konzert auf dem Midwinter Festival zu lesen. Das macht Hoffnung.
Setlist Spock´s Beard:
Go The Way You Go | Tides Of Time | The Good Don’t Last | Hiding Out | On A Perfect Day | Harms Way | On So Wise | The Light
Pain Of Salvation
Auch die Headliner Band um Mastermind Daniel Gildenlöw ist extra für diesen Gig aus Schweden angereist und spielen heute einen der ganz wenigen Gigs, die von der Band 2024 zu erwarten sind. Mit einer gemischten Setlist tragen sie diesem besonderen Event auch Rechnung: im Gegensatz zu vorher erlebten Konzerten ist heute der Anteil alter Stücke auf ungefähr ein Drittel des Sets erhöht. Die übrigen gespielten Songs sind von den letzten beiden Alben „A Passing Light Of Day“ und „Panther“. Derzeit spielt PAIN OF SALVATION zu viert, also ohne Bass auf der Bühne. Wo der tiefe Anteil im wieder kräftigen Sound herkommt, kann im Publikum nicht nachvollzogen werden.
Daniel Gildenlöw im Muscle Shirt gibt weiter den berufsjugendlichen und durchtrainierten Powerboy, der wild vom Schlagzeugpodest springt und mit breiter Brust seine spezielle und harte Musik präsentiert. Er hat seinen grauen Bart sprießen lassen, was allerdings etwas irritiert und ansonsten nicht wirklich zum restlichen Outfit des Meisters passt. Tja, alle Musiker, die schon ein paar Jahre unterwegs sind, werden eben älter. Auffällig ist heute seine kommunikative Art. Fast jeder Titel wird anmoderiert. Er scheint die Festivalatmosphäe in Utrecht sehr zu genießen.
Seine Bandkollegen stehen auch heute im Schatten des großen Daniel. Von der Band, die vor reichlich fünf Jahren das vorletzte Album präsentiert hat, stehen heute nur noch er und der Drummer Leo Margarit auf der Bühne. Genau dieser sorgt heute für vielleicht DEN Gänsehautmoment der Show: in „On A Tuesday“, nach dem fordernden ersten Teil des Stückes erhebt er sich hinter seinem Schlagzeug und zeigt im leisen Mittelteil seine hohe zerbrechliche Stimme. Hier hätte man Stecknadeln fallen hören können. Szenenapplaus!
In „Panther“ setzt sich Daniel, wieder nach einer kleinen Vorrede, eine Wolfsmaske auf, die er nach dem halben Song ins Publikum schmeißt. Die beiden Longtracks „The Passing Light Of Day“ und „Icon“ (letzterer als Zugabe dargeboten) sind noch einmal großes Kino und ein tolles Ende dieses krachenden Festival-Schlusskonzertes. PAIN OF SALVATION verlassen dann doch ziemlich flott die Bühne und entlassen das Publikum unerwartet schnell in die Realität, welches Ende des Festivals heißt.
Setlist Pain Of Salvation:
Accelerator | Reasons | Meaningless | Wait | Used | Ashes | Panther | Restless Boy | On A Tuesday | Falling | The Perfect Element | The Passing Light Of Day
Zugabe: Icon
Fazit:
Wir haben ein tolles Festival in einem auf den ersten Blick vielleicht ungewöhnlichen, auf den zweiten Blick aber sehr passenden Venue erleben dürfen. Der Veranstalter gibt das Publikum mit 1.600 und fast ausverkauft an, was man mit einem Blick ins Rund geringer abschätzt. Interessant, weil man das heutige Midwinter-Festival als kleine Schwester des bewährten und vom gleichen Team veranstalteten Midsummer-Festivals wähnt, welches aber im wunderbaren Openluchttheater in Valkenburg nur 800 Fans zuläßt. Das heute Erlebte macht dem Veranstalter Mut, ein regelmäßiges Festval im tiefen Europäischen Winter zu etablieren. Ja, gekommen um zu bleiben: für den 25. Januar 2025 ist die zweite Edition des MidwinterProg Festivals schon angekündigt; Karten gibt es bereits zu kaufen. Die Andeutungen von Rob Palmen (Labelchef von Glassville Records und Veranstalter der Midwinter- und Midsummer-festivals), bereits Bands für 2025 im Kopf zu haben und mit dann ausverkauftem Haus zu rechnen, lassen große Pläne ahnen. Wir sind gespannt!