Review: Stern Meissen-Reise zum Mittelpunkt des Menschen

Ich möchte mit dieser vielleicht ungewöhnlichen Rezension die Aufmerksamkeit auf ein Album richten, welches (obwohl es zu den absoluten Meisterwerken des PROGRESSIVE ROCK gehört) sich zumeist tief in den Kellern der Musikarchive befindet, dem das Etikett „Gut aber Vergessen“ anhaftet und von welchem vor Reaktivierung des Hörgenusses eine dicke Staubschicht entfernt werden muss. Viele werden es wegen der nur regionalen Verbreitung gar nicht kennen. Auch bei youtube ist heute nur maximal die erste Albumseite zu finden; die CD gibt es heute einzeln gar nicht mehr zu kaufen.

Selbst heute, wo STERN MEISSEN so aktiv wie damals ist, wird dieses Werk in Interviews auch von den Bandmitgliedern maximal in einem Nebensatz erwähnt. Manuel Schmid (heutiger Sänger und musikalisches Herz bei Stern Meissen) antwortete mir auf meine entsprechende Frage, dass dies sehr schwer zu spielendes Material sei, und eine neue Live-Aufführung intensiver Proben bedürfe. Die damit erforderliche Fokussierung, die räumliche Trennung der Bandmitglieder im Alltag und das Erfordernis, heute einem breiten Publikum gerecht werden zu müssen, lassen dieses Unterfangen in träumerische Ferne rücken.

Wir schreiben das Jahr 1981, der Schreiber dieser Zeilen ist damals gerade mal 17 Jahre jung und nimmt Musik frei irgendwelcher Kategorisierungen nur rein emotional war. Dazu kommt, dass aufgrund eines Lebens weit hinter der Mauer die meisten bereits existierende rockmusikalische Meisterwerke dem Schreiber noch gar nicht bekannt sind. Bezug nehmend auf die Weltgeschichte der Rockmusik (welche damals weder die Band noch den heutigen Rezensenten interessiert) ist die Hoch-Zeit des PROG lange vorbei, der PUNK auch schon, und die NEUE DEUTSCHE WELLE steht bereits in den Startlöchern. In diesem Umfeld ballert „Reise zum Mittelpunkt des Menschen“ damals also auf mich ein.

Das Werk beginnt mit einem knapp 4 minütige Solo auf der Hammond („Allein“), düster und melancholisch. Die dynamische Trommel, die das ganze ablöst, erscheint wie ein Blitzschlag. Was dann folgt ist besonders in „Hinwendung“ ein musikalischer Ritt progmusikalischer Excellence, der Weltniveau hat. Das dominante Zusammenspiel von Bass und Schlagzeug hat es für mich vorher noch nie so gegeben. „Romanze“ als Opener auf LP-Seite 2 erscheint als knapp 9 minütiges Keyboard Solo sperrig und schmerzhaft im 12-Ton-Jazz-Gewand, bevor man bei „Innenwelt“ wieder zum verspielten PROG und bei „Menschenzeit“ wieder zu den Hauptmotiven zurück kehrt.

Das Ganze wird wie damals bei Stern Meissen (und heute wieder) üblich ohne Gitarren dargeboten. Mit Thomas Kurzhals und Lothar Kramer haben wir aber zwei Keyboard Player, die diese überwiegend an den Tag gelegte Verrücktheit von Bass und Schlagzeug mit großartigen Sounds begleiten. Keith Emerson läßt grüßen, wird aber in keinster Weise kopiert. Sicher, das Ganze ist auch angelehnt an die besten Werke von YES und den anderen üblichen Verdächtigen des klassischen PROG. Aber nur in so fern, wenn man Interessenten mit Worten beschreiben will wohin hier die Reise geht. Das Gänsehaut-Bass-Spiel von Bimbo Rasym erinnert mich heute mehr an Jaco Pastorius als an Chris Squire. Ich kenne nach über 40 Jahren neugierigen Musik Hörens kein Album, was ich mit diesem wirklich vergleichen könnte.

Die deutschen Texte von Kurt Demmler sind knapp und passen komplett in eine schmale Spalte auf der Rückseite des Original LP-Covers. Es geht um die Gefühlswelt in Zusammenhang mit der Begegnung mit anderen Menschen ganz allgemein. Mit dem üblichen Herz Schmerz Trallala hat das aber nichts zu tun. Dieser gezielt in die Musik eingestreute Gesang von Reinhard Fißler hebt die Musik dann noch in pathetische Höhen, die ich in ihrer Gesamtwirkung später eigentlich nur bei YES kennengelernt habe. Dazu kommt eine druckvolle Produktion von Helmar Federowski, die auch im Jahr 2021 einen zeitlosen und prächtigen Hörgenuss garantiert. Übrigens soll Thomas Kurzhals die Rohfassung des Albums in nur einer Nacht komponiert haben. Unglaublich was es hier für musikalische Genies gegeben hat. Leider weilen, wie er, auch Reinhard Fißler nicht mehr unter uns.

Ja, Stern Meißen ist auch „Weißes Gold“, „Bilder einer Ausstellung“, „Kampf um den Südpol“ oder „Freiheit ist“ (das neue Album von 2020). Für mich persönlich war aber DIESES Werk als geschlossenes Konzeptwerk in Musik und Text der Urknall zum PROG, zu den heute geliebten und verehrten klassischen Werken, die teilweise früher entstanden sind, die ich aber erst viel später kennengelernt habe. Meine Liebe zu YES dann nach der Wende, zu beispielsweise TRANSATLANTIC oder den FLOWER KINGS heute fußt auf diesem Album. Erst viel später hab ich das begriffen. Ich habe das Album hunderte Male gehört, noch heute jagt es mir bei jedem Hören wohlige Schauer über den Rücken. Für mich persönlich ist die „Reise zum Mittelpunkt des Menschen“ wegen seiner für mich historischen Bedeutung, aber wegen der immer noch permanenten hochemotionalen Wirkung als das wichtigste Album der Musikgeschichte.

Tracklist:

Allein

Hinwendung

Romanze

Innenwelt

Menschenzeit

STERN COMBO MEISSEN (1981)

Martin Schreier (ld)

Thomas Kurzhals (keyb)

Lothar Kramer (keyb)

Reinhard Fißler (voc)

Peter Rasym (bg)

Michael Behm (dr)

Komposition und Arrangement: Thomas Kurzhals

Texte: Kurt Demmler

Musik- und Tonregie (Produktion): Helmar Federowski

Meine Wertung: 10 / 10 Punkte

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