Nachdem die isländische Band Sigur Rós viele Jahre nichts von sich hören ließ, ist sie seit 2022 wieder ausgesprochen aktiv. Keyboarder Kjarri Sveinsson, der die Band 2013 für einige Jahre verließ, ist seit Anfang 2022 wieder zurück. Im Februar des gleichen Jahres tat die Band kund, dass sie an neuem Material arbeiten und im Herbst auf Welttournee gehen würde. Ich hatte im Oktober Gelegenheit, ihr fantastisches Konzert in Berlin zu erleben. Wir berichteten darüber. Am 12. Juni dieses Jahres veröffentlichten die Musiker die erste Single Blóðberg ihres neuen Studioalbums ÁTTA (Acht), das sie am selben Tag komplett über Streaming-Dienste zum Download anboten. Nur zwei Tage später dann ihr einziges Deutschlandkonzert einer weiteren Welttournee in der Elbphilharmonie Hamburg. Gerade genug Zeit, um sich mit dem neuen Material vertraut zu machen.
Die drei verbliebenen Musiker von Sigur Rós, Jónsi, Georg ‚Goggi‘ Holm und Kjartan Sveinsson, spielen in Hamburg keines ihrer gewöhnlichen Konzerte, bei denen sie massive Soundwände entstehen lassen und bei denen Lichtinstallation und flimmernde Videoprojektionen die Außergewöhnlichkeit ihrer Musik unterstreichen. In Hamburg haben sie das London Contemporary Orchestra dabei, mit dem sie ihre Musik in ganz eigenen Versionen präsentieren. Die Setlist des zweiteiligen Konzerts enthält 19 Songs, davon vier wunderbare Kompositionen ihres neuen Albums, die nahtlos in das klanglich dichte Gesamtkonzept der Show integriert werden. Das Wort „Show“ ist jedoch eher falsch gewählt, denn außer diversen Glühlampen auf der Bühne, deren Lichtintensität zwischen und während der Songs ständig variiert, und einigen dezent eingesetzten Scheinwerfern, fehlen sämtliche Showelemente. So kann ich mich voll auf die Musik konzentrieren. Das Konzert wird mit der ersten Single des neuen Albums eröffnet. Blóðberg bietet gleich zu Beginn eine makellose Verquickung von Jonsis einzigartigem Gesang und der Fülle der Streichersounds des Orchesters. Trotz der simplen Instrumentierung, aus Streichern, sphärischen Keyboardklängen und Jonsis Stimme, wächst das Stück zu einem gewaltigen Klangerlebnis, dem das Publikum gebannt und verzaubert lauscht. Danach tosender Applaus auf allen Ebenen dieses einzigartigen Konzerthauses. Es wird während des gesamten Konzerts so bleiben. Ein Publikum, das sich voll und ganz auf die Bühne konzentriert und sich von den Klängen mitreißen lässt, um schließlich vor Begeisterung zu explodieren. Nach dem neuen Stück folgen mit Ekki múkk und All Alright zwei Klassiker der Band, von denen insbesondere der zweite in der Orchesterversion sehr reizvoll klingt. Kjartan Sveinsson spielt perlende Akkorde auf dem Grand Piano, Jonsi singt zunächst in mittleren Tonlagen, alles wird von Bläsern dezent untermalt. Das Ganze hat etwas Winterliches, etwas von Weihnachtsmusik. Bei dem neuen Song 8 bauen Band und Orchester einen gewaltigen Spannungsbogen auf. Streicher, Keyboards und Gesang schwellen zu dramatischen Höhen an, um schließlich sanft auszuklingen. Band und Orchester verschmelzen dabei regelrecht miteinander. Das Setting wirkt weniger, wie eine Band, die sich von einem Orchester begleiten lässt, als vielmehr wie eine musikalische Einheit, die diese berührenden, magischen Melodien von Sigur Rós erklingen lässt.
Das London Contemporary Orchestra wurde 2008 von Robert Ames und Hugh Brunt gegründet und widmet sich zeitgenössischer, elektronischer und experimenteller Musik. So hat es schon mit verschiedensten Komponisten, Künstlern oder Bands zusammengearbeitet, z.B. mit Radiohead. Das heutige Konzert wird geleitet von Co-Chefdirigent Robert Ames. Ich sitze seitlich des Orchesters in Höhe der Schlagzeugabteilung und kann sehr gut erkennen, wie vielseitig einige der Orchestermusiker sind. Da wechselt schon mal ein Schlagzeuger an das Grand Piano, wenn Kjartan Sveinsson Gitarre spielt, oder ein Bläser übernimmt diesen Part. Neben den Streichern und den Bläsern faszinieren mich vor allem die perkussiven Instrumente, Pauken und Trommeln, Marimba und Glockenspiel oder die Celesta, die immer wieder zum Einsatz kommen.
Als mit Starálfur einer der bekannteren Songs von Sigur Rós erklingt, hätte ich spontanen Beifall erwartet. Doch auch hier hält sich das Publikum zurück, spart sich diesen auf, bis das Stück mit den blechern klingenden Gitarrenharmonien und den Worten Ég er… (Ich bin allein) endet. Ein sehr intimes Lied, das unter die Haut geht. Dieses und die beiden folgenden Stücke bis zur Pause werden jeweils mit tosendem Applaus bedacht. Nach der Pause geht es mit Klassikern der Alben ( ) und Takk ähnlich weiter, wie im ersten Teil des Konzerts. Es beibt ruhig und eher düster. Doch durch die hervorragende Akustik in der Hamburger Elbphilharmonie wird jeder Song zu einem besonderen Klangerlebnis. Heysátan beispielsweise, mit seinen eindringlichen Pianoakkorden und Jonsis engelsgleichem Gesang, lässt bei mir Erinnerungen an die DVD Heima wachwerden, Erinnerungen an meine ersten Berührungen mit der eigenwilligen Musik von Sigur Rós.
Auch Ylur und Skel vom neuen Album entführen musikalisch in eine Welt aus Eis, Schnee und Vulkanen. Bei Skel schwingt Jonsis Gesang hinauf in schier unerreichbare Höhen, dazu streicht er mit seinem Cellobogen über die Saiten seiner Gitarre, was ebensolche Töne erzeugt. Nach und nach beginnen Sigur Rós und Orchester mit bekannteren Stücken den Spannungsbogen anzuziehen. Das eingängige Stück Sé Lest, mit den Xylophon- und Glockenspiel-Klängen und dem Marschrhythmus der Bläsersektion im Mittelteil sowie den flirrenden Streichern am Schluss, wird eines der Highlights des Konzerts. Es gerät zu einem akustischen Meisterwerk mit einer wunderbaren Klangtreue. Zum Beginn des Songs Hoppípolla gibt es dann schon mal Szenenapplaus, wenn auch nur verhalten. Um so frenetischer wird dieser nach dem Song. Leider ist dies dann auch schon der letzte Song, bei dem die drei Musiker der Band mitspielen. Das düstere und dissonante Stück Avalon wird abschließend vom Orchester gespielt, welches dann auch mit einem besonderen Applaus bedacht wird.
Danach kehrt auch die Band nochmal auf die Bühne zurück, um sich unter Beifallsstürmen zu verbeugen und beim Publikum zu bedanken. Es ist ein magisches und sehr bewegendes Konzert, das damit seinen Abschluss findet. Ich hoffe, dass ich Sigur Rós bald wieder live erleben kann, egal ob mit Orchester oder nur als Band mit Licht- und Video-Show.
Setlist:
Set 1:
Blóðberg
Ekki múkk
All Alright
8
Von
Andvari
Starálfur
Dauðalogn
Varðeldur
Set 2:
Untitled #1 – Vaka
Untitled #3 – Samskeyti
Heysátan
Ylur
Skel
Fljótavik
Untitled #5 – Álafoss
Sé Lest
Hoppípolla
Avalon