Als bekannt wurde, dass Steven Wilson mit dem neuen Album auch auf größere Tour gehen wollte, stellte sich die große Frage: Wie wird das Album – und vor allem, wo wird er überall auftreten? Gut, die erste Frage ließ sich bei der Bekanntgabe der Tourdaten noch nicht beantworten. Aber als ich „Berlin“ las – und dann auch noch den altehrwürdigen Friedrichstadt-Palast – wurden sofort Tickets bestellt. Eine kluge Entscheidung, denn Berlin war relativ schnell ausverkauft. Auch die Befürchtung, dass er „Permanating“ spielt und das Fernsehballett dazu tanzt, trat glücklicherweise nicht ein …

Wie wir mittlerweile wissen, ist das aktuelle Album ein Volltreffer geworden. Nach einigen gespielten Shows war klar: Es gibt einen ersten Teil, in dem das Album in seiner Gänze aufgeführt wird. Die Vorfreude stieg – und am 02.06.2025 war es dann endlich so weit. Ein weiterer positiver Aspekt: Es gab keine Vorband. Das Konzert begann auf die Sekunde pünktlich um 20:00 Uhr. Mit seiner Falsettstimme bringt Steven Wilson die ersten Töne von „Objects Outlive Us“ – im Saal hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Der mehrstimmige Staccato-Teil wird bereits hier mit Applaus bedacht.
Ich hatte anfangs Schwierigkeiten, dem Ganzen zu folgen: Eine riesige Projektion zog die Aufmerksamkeit auf sich – oder sollte man lieber auf die Musiker auf der Bühne schauen? Dazu kam ein fantastischer Surround-Sound. Doch schon mit dem komplexen ersten Stück war ich gefangen – in einem Live-Erlebnis auf höchstem Niveau. Die Band spielte, für alle sichtbar, in höchster Konzentration.

Nach 23 Minuten ist es Zeit für den Titeltrack von The Overview. Auch hier dominieren die Bilder auf dem riesigen Bildschirm. Die Aufzählung der Entfernungen im Weltraum wird visuell eindrucksvoll in Wort und Bild dargestellt – ein audiovisuelles Erlebnis, das unter die Haut geht. Die Darbietung an diesem Abend ist schlichtweg perfekt. Danach gönnt sich die Band – völlig zu Recht – eine kurze Pause. Ich brauchte sie ebenfalls, um das eben Erlebte zu verarbeiten. Was dieser erste Teil geboten hat, ist nichts weniger als ein Hochgenuss.
Nach zwanzig Minuten Pause betreten Steven Wilson und Adam Holzman die Bühne – es ist Zeit für The Harmony Codex. Ein wunderschönes, fast zehnminütiges Instrumentalstück, das für mich zu den ganz großen Highlights des Abends zählt. Man verliert jedes Gefühl für Raum und Zeit. Grandios! Der Saal lauscht gebannt. Niemand spricht – keine störenden Gespräche, wie man sie leider auf vielen anderen Konzerten erlebt. Auch Smartphones bleiben in den Taschen: keine Fotos, keine Videos. Eine wahre Wohltat für jeden Konzertbesucher – und ein Zeichen des Respekts gegenüber der Musik.

Vom Album The Future Bites folgt mit King Ghost ein Stück, das live noch intensiver wirkt als auf der Studioversion. Die Band präsentiert sich hier deutlich lockerer und entspannter. Auch Steven Wilson nimmt sich erstmals an diesem Abend Zeit, um mit dem Publikum zu sprechen – ein sympathischer Moment der Nähe. Anschließend folgen mit Home Invasion und Regret #9 zwei Highlights aus dem Erfolgsalbum Hand. Cannot. Erase. Ab diesem Punkt nimmt auch das Publikum spürbar Fahrt auf: Die ersten stehenden Ovationen lassen nicht lange auf sich warten. Wie bereits erwähnt, agiert die Band nun noch gelöster und spielfreudiger.
Randy McStine wagt kleine Ausflüge an den Bühnenrand – ebenso wie der Meister selbst – während ihrer Gitarrensoli. Einziger Wermutstropfen: Die Ausleuchtung war nicht optimal. Da keine Verfolger eingesetzt wurden, standen die Musiker bei ihren Ausflügen nach vorn oft im Dunkeln. Im weiteren Verlauf folgte ein gelungener Mix aus echten Live-Krachern wie Impossible Tightrope und Vermillioncore, aber auch ruhigeren, atmosphärischen Stücken wie Pariah und Harmony Korine.

Alles in allem eine grandiose Setlist an diesem Abend – abwechslungsreich, dramaturgisch klug aufgebaut und voller emotionaler Höhepunkte. Einziger Wermutstropfen: Voyage 34 (Phase 1) hätte ich mir noch gewünscht … aber man kann ja nicht alles haben.
Als Zugabe wurden Ancestral und The Raven That Refused to Sing gespielt. Besonders letzteres hinterließ bei mir einen bleibenden Eindruck – ein ergreifender Abschluss, der tief unter die Haut ging.
Gegen 23:00 Uhr war das Konzert zu Ende, doch viele Besucher standen noch lange danach sichtlich bewegt und beeindruckt im Saal oder draußen vor dem Friedrichstadt-Palast.

So eine besondere Stimmung erlebt man selten nach einem Konzert. Dieses hier wird bei vielen sicherlich noch lange nachhallen – und hat einmal mehr gezeigt, dass Steven Wilson es einfach kann. Auch die Frage ob er nun wieder beim Progressive Rock angekommen ist ist mir dabei völlig egal, er ist ein facettenreicher Musiker der sein Publikum in jeder Hinsicht unterhalten kann.
Setlist:
Teil 1
Objects Outlive Us
The Overview
Teil 2
The Harmony Codex
King Ghost
Home Invasion
Regret #9
What Life Brings
Dislocated Day (Porcupine Tree Song)
Pariah
Impossible Tightrope
Harmony Korine
Vermillioncore
Zugaben:
Ancestral
The Raven That Refused To Sing
