Was als Experiment begann, wurde schließlich ein großer Erfolg für die Veranstalter, die Künstler und das Publikum: das erste „Klassentreffen der Ostmusik“ in Neuruppin. Hinter dem Projekt steht der Berliner Verein PopKulturOst e. V., dem unter anderem der Musikjournalist und Autor Wolfgang Martin, der letzte Amiga-Chef bei Sony Music, Jörg Stempel, sowie der Musiker Tobias Unterberg angehören. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Musikkultur des Ostens, die Generationen von Menschen geprägt hat, lebendig zu halten und in ihrer ganzen Vielfalt erlebbar zu machen. Aus diesem Anspruch heraus entstand die Idee eines besonderen Treffens von Musikern mit ihren Fans.

Der Veranstaltungsort am Hangar-312 befindet sich auf einem ehemaligen Flugplatz der sowjetischen Streitkräfte. Auf dem Hangar thront eine farbenfroh bemalte MiG-21, die die Geschichte des Ortes lebendig werden lässt. Das Gelände beherbergt zudem zwei Bühnen, auf denen an diesem Wochenende insgesamt 17 musikalische Acts für unvergessliche Momente sorgen werden. Zwei der Bands, NO 55 und Chicorée, haben sich eigens für dieses Festival nach über dreißig Jahren wieder zusammengefunden – ein besonderes Highlight. Auch ich bin gespannt, was mich an diesen beiden Tagen erwarten wird.
Hans die Geige
Am Freitag zeigt sich das Wetter zum Festivalstart von seiner besten Seite. Auf dem Ablaufplan lese ich, dass Hans Wintoch, besser bekannt als Hans die Geige, das Festival eröffnen wird. Sein Lied Unsere Zeit, dessen Text aus verschiedenen Zitaten bekannter DDR-Rock-Songs zusammengesetzt ist, wird zum offiziellen Song des Festivals. Die Zeilen „Das sind die Lieder unserer Zeit, sie teilten Freude und auch Leid. … Ich denk nur so, so was darf nicht vergehn.“, drücken das Anliegen des Festivals treffend aus.

Nach einer kurzen Begrüßung durch Jürgen Karney, den die meisten noch als Moderator der DDR-Musiksendung „Bong“ kennen dürften, hat Hans die Geige noch weitere Songs im Gepäck, bei denen er vor allem mit seinem virtuosen Spiel auf der Violine überzeugen kann. Seine Version von The Show must go on oder das Stück Future, mit dem er an den viel zu früh verstorbenen Klaus Scharfschwerdt erinnert, zeigen schon jetzt eine der vielen Facetten der „Ostmusik“.
Perl
Die Amateurband Perl wurde 1979 gegründet und gilt für mich als ein One-Hit-Wonder. Ihr bekanntester Song Zeit, die nie vergeht, gesungen vom unvergessenen Michael Barakowski, galt 1985 als der erfolgreichste Rock-Song in der DDR. Es ist beeindruckend zu sehen, dass die Band um den Puhdys-Sohn Sven Hertrampf immer noch aktiv ist und ihr Publikum auch mit dem neuen Sänger Wolfgang ‚Wolle‘ Franke begeistern kann. In einem ihrer Lieder heißt es: „Peace, peace, peace…“ Und das Statement des Sängers: „Mit dem ganzen Geld, das wir für Rüstung ausgeben, könnte man viele sinnvollere Dinge tun.“ findet großen Beifall.




Angelika Weiz
Nach geradlinigem Rock erwartet uns ein Wechsel in die Welt des Jazz, Soul und Blues. Die großartige Sängerin Angelika Weiz sitzt in der Mitte der etwas kleineren zweiten Bühne. Begleitet wird sie von einer Band, zu der auch der bekannte Jazz-Gitarrist Charlie Eitner gehört. Gemeinsam zelebrieren sie zunächst zeitlose Standards wie Route 66 von Nat King Cole und Georgia on My Mind von Ray Charles. Bei My Baby Just Cares for Me dürfen die Zuschauer aktiv mitwirken. Nach einer kurzen Anleitung entsteht ein lebendiger Chor, der die Worte „dimpe, dimpe, dimpe, dimpe …“ aneinanderreiht und so die charakteristische Basslinie des Songs von Nina Simone intoniert.

Bei seiner Komposition Afrika beweist Charlie Eitner seine Virtuosität auf der Gitarre und entführt das Publikum in eine musikalische Welt fremdartiger Klänge und Rhythmen. Das Quintett widmet sich auch der „bösen Beatmusik“ der späten 1960er Jahre. Angelika Weiz verleiht den Beatles-Klassikern Come Together und Get Back mit ihrer einzigartigen Stimme und ihrer Interpretation ein unverwechselbares Gesicht.

Noch zweimal lädt sie das Publikum zum Mitsingen ein. Besonders der gemeinsam gesungene Gospel-Song Oh Happy Day scheint das Motto des heutigen Tages perfekt zu treffen. Und natürlich darf das Lied Unsere Heimat nicht fehlen, das wohl viele der Anwesenden bereits während ihrer Schulzeit gesungen haben. Angelika Weizs kritische Neugestaltung des Textes zu diesem Kinderlied sorgte 1989 für Aufregung bei den Kulturfunktionären. In der Folge wurde die bereits fertig produzierte Langspielplatte Heimat damals nicht veröffentlicht. An diesem Abend erklingt das Lied aus hunderten Kehlen und bildet den emotionalen Abschluss des beeindruckenden Konzerts.


Bajazzo
Die Jazzsängerin Pascal von Wroblewsky und den Gitarristen Jürgen Heckel verbindet nicht nur eine langjährige Freundschaft, sondern auch eine Zusammenarbeit, die bereits über 30 Jahre andauert. Jürgen Heckel, Bandleader der Jazz-Rock-Formation Bajazzo, hat schon immer eine Leidenschaft dafür gehabt, Klassiker des Rock und Blues zu covern. In Pascal von Wroblewsky fand er die perfekte Interpretin für seine Versionen von Welthits aus den goldenen Zeiten der Rockmusik. Heute erleben wir die beiden mit ihrer Band. Auf dem Programm stehen Songs aus den 1960/70er Jahren. Dabei geht es schon mal recht rockig zu, wie bei Led Zeppelins Black Dog. Die Band überzeugt durch hochkarätige Musiker, ihren großartigen Gitarristen und vor allem durch Pascals gigantischen Stimmumfang.




Zerfall
Um ehrlich zu sein, mit Punk hatte ich bisher noch nie viel am Hut. Dem Moderator Jürgen Karney geht es ebenso, wie er berichtet. Eine Einladung einer Punkband in die Sendung „Bong“ wäre für ihn undenkbar gewesen. Doch Punk gehört zur DDR-Rockgeschichte einfach dazu. Was uns die Berliner Band Zerfall anschließend auf der kleinen Bühne präsentiert, macht einfach nur Spaß. Die Band agierte ab 1984 im Umfeld der Ostberliner Galiläa-Kirche und avancierte durch ihre kultig-chaotischen und trinkfesten Auftritte zum Mittelpunkt einer Punk-Clique in ihrem Kiez.


Unter dem Druck der Stasi, die sie stets beäugte und bedrängte, ohne dass sie jemals eine offizielle Spielerlaubnis erhielt, sowie aufgrund unterschiedlicher Auffassungen unter den Musikern, löste sich die Band bereits nach wenigen Jahren auf. Heute steht sie als Quartett wieder auf der Bühne und beschwört die alten Zeiten. Das Konzert beginnt kultig, indem erstmal kleine Fläschchen Pfeffi im Publikum verteilt werden.

Songs wie Was soll ich bloß machen?, Geld muss her oder Dieser Staat erzählen von der Geschichte der Jugendlichen in der ehemaligen DDR, die unangepasst leben wollten. Sänger Dirk ‚Kalle‘ Kalinowski springt dabei wild über die Bühne und auch mal ins Publikum. Und vor der Bühne wird tatsächlich Pogo getanzt. Besser geht’s nicht.

NO 55
Viele Fans haben der Re-Union der Kultband NO 55 – auch Enno genannt – erwartungsvoll entgegengeblickt. Nun erleben wir auf der großen Festivalbühne vier der Originalmitglieder dieser Band: Bassist und Geiger Georgi ‚Joro‘ Gogow, Gitarrist Gisbert ‚Pitti‘ Piatkowski, Frontmann Frank ‚Gala‘ Gahler und Schlagzeuger Bernd Haucke. Thomas Schmidt sowie Georgis Sohn Nicolaj Gogow sind als Gastmusiker mit dabei.

Die Band zeigt sichtbare Spielfreude bei ihren energiegeladenen Rock-Songs. Obwohl Gala scherzt: „Heute sind wir die alten Säcke!“ agieren die Musiker, als hätte es nie eine Trennung gegeben. Ihre Klassiker Träume von gestern oder Schlüsselkind sind zeitlos. Joro Gogow hat natürlich seine Geige dabei, die bei Wenn du nicht da bist schon mal zum Einsatz kommt. Bei dem Song Vorüber wirft Gala Trillerpfeifen ins Publikum, sodass bei der Zeile „Meine Zeit mit dir ist vorüber“ ein lautstarkes Pfeifkonzert entsteht.


Ihren wohl größten Hit, In der letzten Stunde des Tages, hat einst Gitarrist Pitti eingesungen, als Gala seinen Wehrdienst ableisten musste. Auch heute singt er diesen Ohrwurm mit viel Inbrunst. Das Konzert endet mit CITYs Erfolgssong Am Fenster, bei dem Joro Gogow noch einmal mit seinem virtuosen Spiel auf der Geige begeistert. Die Begeisterung ist so groß, dass NO 55 nicht ohne Zugabe von der Bühne kommt. Mit einer kraftvollen Rock-Version von Come Together der Beatles verabschiedet sich die Band von den Fans.


Rockhaus
Anschließend erleben wir die Berliner Band Rockhaus auf der kleinen Bühne. In den frühen Abendstunden entfacht die Band um Sänger und Gitarrist Mike Kilian ein echtes Hit-Feuerwerk. Bereits der erste Song Hör zu reißt die Fans mit, die dicht gedrängt am Bühnenrand stehen. Mike singt sich mit seiner markanten Stimme sofort in die Herzen der Fans. Für die treibenden Rhythmen sorgen Schlagzeuger Heinz Angel und Bassist Robert Protzmann.

Das großartige Gitarrenspiel von Reinhard ‚Herr‘ Petereit ist bestechend. Mit den Worten „Ich habe einen Traum und ich hoffe, ihr träumt den auch – Frieden!“ moderiert Mike den Song Träume, Träume an. Nach weiteren Ohrwürmern heißt es schließlich: „Ich lass euch allein“. Doch ohne ihren Mega-Hit I.L.D. lässt Rockhaus die Fans nicht gehen. Am Ende dieses Liebeslieds beweist Mike Kilian erneut sein Gesangstalent, indem er seine Stimme über mehrere Oktaven in beeindruckende Höhen schraubt.




Stern Combo Meissen
Die Anmoderation für die Stern-Combo Meißen übernimmt Schauspieler Karsten Speck, der sich als großer Fan dieser Band outet. Und die Stern-Combo ist auch im 61. Jahr ihres Bestehens immer noch eine fantastische Live-Band, wie sie eindrucksvoll unter Beweis stellt. Neben Klassikern wie Die Sage oder Der Kampf um den Südpol spielt sie auch zwei Songs ihrer aktuellen EP Die Himmelsscheibe von Nebra, die beide aus der Feder von Sänger und Keyboarder Manuel Schmid stammen.


Mit dem zehnminütigen Titelsong dieser EP setzen die Musiker die Tradition fort, anspruchsvolle Werke im Stil des 70er-Jahre-Artrock zu komponieren. Dem gegenüber steht das ebenfalls neue Stück In der kalten Nacht, das mit seiner eingängigen Melodie eher radiotauglich ist. Die Band begeistert durchweg mit herausragendem Solo- und Satzgesang sowie virtuosem Spiel aller Instrumentalisten.


Das einzige verbliebene Originalmitglied, Martin Schreier, moderiert gut gelaunt die Songs, singt mit und übernimmt bei Der Kampf um den Südpol das Schlagzeug. Er betont, dass die Band so lange weitermachen wird, wie es möglich ist – und ich persönlich hoffe, dass das noch sehr lange so bleibt. Mit Hits aus den 80er Jahren, als Stern Meißen noch im Radio und Fernsehen lief, erreicht der erste Tag des Klassentreffens der Ostmusik seinen emotionalen Höhepunkt.

„Was sich am zweiten Festivaltag ereignet hat, erfahrt ihr morgen im zweiten Teil meines Berichts. So viel sei verraten: Es wurde erneut spannend, bewegend und voller Überraschungen.“
