Livereport: Klassentreffen der Ostmusik – Neuruppin 2025 Teil 2, Samstag 28.06.

Der zweite Tag des Festivals beginnt mit einigen Verzögerungen im Ablauf. Ein unfallbedingter Stau auf der Autobahn sorgt dafür, dass einige Musiker nicht pünktlich ankommen. So habe ich Gelegenheit, das Festivalgelände zu erkunden. Die Versorgung der Gäste ist hervorragend organisiert: Neben alkoholischen Getränken kann man bei roter Fassbrause in Erinnerungen schwelgen, und das Speisenangebot versetzt einen zurück in die Vergangenheit. Ob Soljanka, Erbsensuppe mit Bockwurst oder Nudeln mit Tomatensoße, die wie früher in der Schule schmecken, alles ist zu fairen Preisen erhältlich. Auch DDR-Softeis ist im Angebot und sorgt für eine süße Abkühlung. An den Merchandise-Ständen kann man T-Shirts und andere Fanartikel ergattern. Das Label ROKKfilm hat frisch aufgearbeitete DDR-Rock-Raritäten auf Vinyl im Angebot. In einer Ecke fühlt es sich an wie in einem DDR-Museum: Im „Ossiladen“ werden allerlei Erinnerungsstücke aus der damaligen Zeit angeboten – Dederon-Kittelschürzen, Einkaufsnetze, bunte Plaste-Eierbecher, Campingutensilien aus Plaste und vieles mehr. Diese Ostalgie finde ich etwas skurril, zumal an dem Stand auch noch eine DDR-Fahne weht.

MTS

Gegen 13:00 Uhr ist es endlich so weit. Zwei Männer betreten die große Bühne und strahlen voller Mut, Tatendrang und Schönheit – MTS. Das Liedkabarett aus Berlin gibt es schon seit 1973, und MTS ist bekannt für seine Lieder und Sprüche, die mit bitterbösem Humor gespickt sind. Heute steht das Kürzel MTS für makaber, taktlos, aber sauber. Für den Ur-MTSler Thomas Schmitt und seinen musikalischen Kompagnon Frank Sültemeyer ist es an diesem frühen Nachmittag ein Kinderspiel, die vielen Fans vor der Bühne mit ihren Liedern und witzigen Sprüchen zum Lachen zu bringen. Es ist eine weitere spannende Facette der Ostmusik, die perfekt zum Klassentreffen passt.

Dirk Zöllner & Manuel Schmid

Da die fehlenden Musiker immer noch nicht angekommen sind, ist Improvisation gefragt. Spontan erklären sich Dirk Zöllner und Manuel Schmid bereit, einzuspringen. Sie präsentieren eine kleine Auswahl von Songs aus ihrem Programm „Balladen aus einem Land vor unserer Zeit“. Die Lieder Schnee und Erde und Es gibt Momente fesseln das Publikum sofort.

Schnell füllt sich die Fläche vor der kleinen Bühne, und die Fans hören tief bewegt den zeitlosen Songs zu. Bei Cäsars Blues gesellt sich Matthias Stolpe mit seiner Mundharmonika hinzu und verleiht dem Lied das passende Blues-Feeling. Auch Ferry Grott lässt es sich nicht nehmen, die folgenden Stücke mit seiner Trompete zu begleiten. Diese spontane Programmeinlage wird so zum ersten musikalischen Höhepunkt des Tages und wird von den Fans mit frenetischem Beifall belohnt.

Jonathan Blues Band

Der Blues hat im Osten eine bedeutende Rolle gespielt, das ist unbestreitbar. Die Berliner Jonathan Blues Band, die bereits seit 1980 besteht, ist ein lebendiges Beispiel dafür. Gitarrist und Sänger Peter Pabst sowie Bassist Hagen Dyballa sind von Anfang an dabei und haben die Band maßgeblich geprägt.

Heute begeistert die Band auf der großen Festivalbühne mit einer Mischung aus Blues-Standards, eigenen Songs und mitreißendem Blues-Rock. Als Gäste dürfen wir Keyboarder Gerhard ‚Hugo‘ Laartz und Trommler Matthias Fuhrmann von der Modern Soul Band begrüßen. Und zum krönenden Abschluss kommt Matthias ‚Matze‘ Stolpe auf die Bühne, um sich mit Peter Pabst ein Battle zwischen Gitarre und Mundharmonika zu liefern – ein echtes Highlight für alle Blues-Fans!

Modern Soul Band

„Wir sind ’ne weitgereiste Band“, heißt es im ersten Song der Modern Soul Band, die jetzt die große Bühne betreten hat. Tatsächlich reist die Berliner Band um Gründer Gerhard ‚Hugo‘ Laartz bereits seit 57 Jahren durch die Welt. Ihr Markenzeichen ist ein fetter Bläsersatz, mit dem sie auch heute wieder das Publikum begeistert.

Der Song Chicago enthält diverse Bläser-Zitate der gleichnamigen US-amerikanischen Band, an der sich die Modern Soul Band einst orientiert hat. Klassiker wie Himmel und Hölle, Berliner Song oder Mr. Wonder sind den Kennern der Band vertraut. Ihr charismatischer Sänger Dirk Lorenz singt und performt die Songs mit großer Hingabe – man kann ihn durchaus als „Rampensau“ bezeichnen.

Trompeter Ferry Grott begeistert mit seiner instrumentalen und gerappten Version des CITY-Klassikers Casablanca. Insgesamt ist viel Spaß und Bewegung auf der Bühne zu erleben, bis hin zu Dirk Lorenz‘ Luftsprüngen am Ende des Konzerts. Für mich ist das Konzert der Modern Soul Band ein weiteres Highlight des Tages.

Klosterbrüder

Endlich sind dann auch die Klosterbrüder komplett. Ursprünglich in den 1970er Jahren zu einer der angesagtesten DDR-Rockbands gewachsen, hat die Band eine wechselvolle Geschichte mit Stasi-Repressalien, Namensänderung, Verbot und Knast hinter sich, die den Fans des Ost-Rock bekannt sein dürfte. Seit dem Jahr 2000 tourt Dietrich Kessler wieder mit einer Band unter dem ursprünglichen Namen Klosterbrüder.

Bekannte Songs stehen auf dem Programm. Darunter die Stücke Lied einer alten Stadt, Was wird morgen sein, Kalt und Heiß oder das Instrumentalstück Orient X-Press. Der Sound der Band wird maßgeblich von Kesslers Saxophon- und Flötenspiel geprägt. Die Klosterbrüder orientierten sich in ihren Anfangsjahren an Bands wie Colosseum oder Frumpy. Heute hören wir How the Gipsy was born von letztgenannter Band, genial interpretiert von Gastsängerin Steffi Breiting.

Berluc

Einst trugen sie den Beinamen „Die Rocker von der Küste“, weil ihr Bandgründer und Schlagzeuger Dietmar Ränker in Rostock lebt. Gemeint ist die Band Berluc. Mit ihren Songs entführen sie uns bei Hallo Erde, hier ist Alpha zu den Sternen – oder lassen uns in einer wilden Achterbahn der Gefühle schaukeln.

Alles bei gradlinigem Hardrock, der durch Melodien besticht, die sich im Nu mitsingen lassen. Das kommt bei den Fans vor der Bühne richtig gut an. Auch ihr rockiger Antikriegs-Song No Bomb darf natürlich nicht fehlen. Mit der eingängigen Ballade Blaue Stunde verabschieden sich die fünf Rocker nach knapp einer Stunde von ihren begeisterten Zuhörern.

Karussell

Mit der Band Karussell bin ich nie so richtig warm geworden. Sie wurde 1976 als Ableger der kurz zuvor verbotenen Band Renft gegründet. Peter ‚Cäsar‘ Gläser und Jochen Hohl musizierten bei Karussell weiter. Musikalisch trat die neue Band das Erbe von Renft an, was für mich nicht passen wollte.

Doch Karussell wurde im Laufe der Jahre immer erfolgreicher und hatte mit Als ich fortging schließlich einen Mega-Hit. Dass die Band heute eine riesige Fanbase besitzt, ist auf dem Festival anhand vieler T-Shirts nicht zu übersehen. Karussell präsentiert uns heute bekannte Songs wie Entweder oder, Wie ein Fischlein unterm Eis oder McDonald sowie Stücke ihres aktuellen Albums Unter den Sternen. Natürlich fehlen auch die Renft-Klassiker nicht. Den Gesang teilen sich Musiker aus zwei Generationen, Gründungsmitglied Reinhard ‚Oschek‘ Huth und Joe Raschke, Sohn des Keyboarders Wolf-Rüdiger Raschke.

Chicorée

Ich habe mir längst einen günstigen Platz zum Fotografieren vor der kleinen Bühne ergattert, während Karussell noch eine letzte Zugabe spielt. Die Berliner Band Chicorée erlebte ich 1987 zum ersten Mal bei einem gemeinsamen Konzert im Neubrandenburger BAZ (Berufsausbildungszentrum). Damals war ich Bassist der Amateurband Porto. Unser Soundcheck war längst erledigt, als die Musiker aus Berlin eintrafen. Es hieß, ihr LKW sei liegen geblieben, und sie würden gern über unsere Anlage spielen. Kein Problem für uns. Während unseres Konzerts saßen die fünf Musiker mit ihren stylischen Frisuren am Bühnenrand und applaudierten brav bei jedem Song. Doch als sie selbst auf die Bühne gingen, fing die Luft plötzlich Feuer. Eine so explosiv agierende Band, die solch einen energiegeladenen Funk-Rock spielte, hatte ich bis dahin noch nie erlebt.

Chicorée existierte bekanntlich nur eine kurze Zeit. Dass Dirk Zöllner zwei seiner ehemaligen Kollegen zu einer Re-Union der Band bewegen konnte, weckte nicht nur bei mir große Erwartungen. Nun ist die Stunde der Wahrheit gekommen. Keyboarder André Kuntze, Bassist Frank Brennecke und Dirk Zöllner betreten unter frenetischem Beifall die Bühne. An ihrer Seite haben sie Ilir Mulaj am Schlagzeug und den Gitarristen Norman Dassler. Das Licht verdunkelt sich, die Bühne wird in dichten Nebel gehüllt, und dezente Keyboardklänge erfüllen den Raum.

Dann kommt Der Ausbruch. „Ich muss jetzt tanzen, alle soll’n jetzt tanzen“, singt Dirk Zöllner. Und tatsächlich bewegen sich die Fans sofort im Rhythmus dieses Songs und lassen sich von dessen Energie mitreißen. Norman Dassler, der gut in die reformierte Band passt, brilliert bei seinem Gitarrensolo. Die Performance von Chicorée ist nicht mehr so wild wie in alten Zeiten, doch die Faszination ist ungebrochen.

Mit der funkigen Nummer Hör mich senden sie eine klare Botschaft: „Wir sind wieder da.“ Gemeinsam mit Gästen wie Steffi Breiting, die bei Bock auf Berlin und Angela mitsingt, sowie dem schrillen Jörg Menge, der bei dem Song über Angela Davis und die DDR kräftig in sein Saxophon bläst, feiern sie ihre Rückkehr. Mit dem bewegenden, zeitlosen Käfer auf’m Blatt verabschiedet Chicorée sich von den glücklichen Fans. Wohl alle hoffen auf ein Fortbestehen dieser legendären Band.

Silly

Spielt Silly in einer anderen Liga, frage ich mich angesichts der muskelbepackten Männer von der Security, die sich plötzlich im Fotograben aufhalten? Doch alles ist gut, wir dürfen ungehindert fotografieren. Dass Silly nicht nur in den Medien präsent ist, sondern auch live begeistern kann, beweist die Band eindrucksvoll mit ihrem heutigen Konzert. Die Bühne ist in blaues Licht getaucht, als die Band ihr Programm mit dem düsteren Unterm Asphalt eröffnet.

Als Sängerin agiert seit einigen Jahren die großartige Julia Neigel, die den alten Songs ihren eigenen Stempel aufdrückt, jedoch respektvoll nah an den Originalen bleibt. Ob Alles wird besser oder Verlorne Kinder, ob Bataillon d’Amour oder Asyl im Paradies, es sind Songs, die uns im Gedächtnis geblieben sind.

Sie heute live erleben zu können, ist eine große Freude. Sehr beeindruckend ist die Zugabe Mein Vaterland, dessen Text aktueller denn je ist. Das Konzert von Silly ist nicht nur musikalisch herausragend, sondern bildet auch den emotionalen und würdigen Höhepunkt dieses Festivals.

Die beiden Tage mit den vielfältigen Konzerten fühlen sich für mich wie eine Zeitreise durch große Teile meiner kulturellen Identität an. Diese Erlebnisse möchte ich auf keinen Fall missen und freue mich bereits jetzt auf das zweite Klassentreffen der Ostmusik am 20. und 21. Juni 2026.

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