Livereport: Jean Michel Jarre – Stuttgart, Schlossplatz 11.07.2025

Jean-Michel Jarre ist der Musiker, der den Schreiber dieser Zeilen schon seit fast 50 Jahren kontinuierlich begleitet. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre entdeckte ein noch nicht mal 15jähriger junger Bengel die Musik der ersten Alben und wurde dazu inspiriert, Raumschiffe zu zeichnen. Ich klebte förmlich am Radio, um mir keine Chance entgehen zu lassen, seine Stücke auf Kassette zu speichern. Der Franzose gilt neben Vangelis als Pionier der elektronischen Popmusik; die Musikwelt wäre wohl eine andere ohne ihn. Jean-Michel Jarre hat sich dabei all die Jahre immer wieder auf neue Pfade begeben, die vor ihm noch niemand gegangen ist, ohne seine Vergangenheit zu leugnen. Allein wenn man die sechs Studioalben der letzten zehn Jahre mal Revue passieren lässt, findet man traditionell gestrickte Werke, aktuelle Party-Elektronik und rein avantgardistische Alben. Mit dieser Freude am Experimentieren mit Musik in verschiedenste Richtungen ist er musikalisch gewissermaßen auch progressiv und passt mit seiner Musik zu STONE PROG, auch wenn er ausschließlich elektronische Instrumente verwendet.

Live-Tourneen waren dabei aber nicht so seins. Meiner Kenntnis nach ist diese Sommertour 2025 mit 12 Konzerten überhaupt erst die vierte Tour seiner fast 50-jährigen künstlerischen Laufbahn. Meist sind es gigantische Einzelkonzert-Events, mit welchen er über Jahrzehnte regelmäßig begeistert. Hier hat er als einziger Künstler bereits fünf Mal die Million Zuschauer geknackt, sein Konzert in Moskau 1997 vor 3,5 Mio. Zuschauern gilt als die Show mit der größten Anzahl Konzertbesucher aller Zeiten. Im Mai 2024 gab Jean-Michel Jarre ein überwältigendes Großkonzert in Bratislava vor mehr als 100.000 Fans, wo er praktisch einen ganzen Stadtteil inklusive Donaubrücke und Häuser als Projektionsfläche in seine Show einbezog. Diese Show wurde damals kostenfrei gestreamt und erscheint nun im September 2025 auf Tonträger. Unter dem Eindruck dieser damals schon am Bildschirm überwältigenden Show war die Freude groß, den Meister heute in Stuttgart nach 9 Jahren endlich einmal wieder in einer großen Bühnenshow bestaunen zu dürfen.

Der Schlossplatz in Stuttgart begrüßt uns mit angenehmem Sommerwetter. Gemessen an den oben beschriebenen Dimensionen erwartet uns hier gemeinsam mit nicht mal 7.000 Gästen (nicht ausverkauft) beinahe schon ein Clubkonzert, was uns aber gerade durch eine gewisse Kompaktheit des Platzes und relative Nähe zum Meister faszinieren sollte. Das Support-Konzert von Martin Kohlstedt beginnt schon um 18 Uhr und führt mit vielfach improvisierten Stimmungen auf das Erscheinen des Meisters hin. Man merkt in der Musik, die dem Stil von Jean-Michel Jarre ähnelt, wie sehr er den heutigen Haupt-Act verehrt.

Soweit so gut. Denn in der nächsten reichlichen Stunde wollte der Veranstalter den Besuchern wohl die Stimmung vermiesen. Zunächst mit einer Tanzeinlage als Bestandteil des lokalen „Colors Of Dance“-Festivals. Okay. Wenn das schon sein muss, dann wäre eine Positionierung vor die beiden Musikacts besser, vor allem aber feinfühliger gewesen. Es folgt nun intensive Werbung der Sponsoren, die von Kettensägen bis Banken reicht und laut und schreiend aus den Boxen und grell von allen Videowänden kommt. Damit wird jede Konzertstimmung auf null gefahren. Wenigstens wird diese Werbung ca. 15 Minuten vor Konzertbeginn abgeschaltet. Mittels dieser Stille wird wieder Spannung erzeugt und die Fans auf den Konzertbeginn vorbereitet. Jean-Michel Jarre! The One and Only! Ohne Vorwarnung wird plötzlich laut von 10 heruntergezählt, und die Legende schreitet unspektakulär und schlicht gekleidet hinter die Bedienpulte. Endlich ist es soweit!

Die nun folgenden knapp 2 Stunden Konzert zählen zu den besten und perfektesten Musikshows, die ich je gesehen habe. Vor Konzertbeginn zählten wir 21 (einundzwanzig!!!) Boxensysteme, die rings um den Schlossplatz aufgehängt sind und für den bestmöglichen Sound sorgen. Neben den drei großen Projektionsflächen links, rechts und hinter dem Arbeitsplatz von Jean-Michel Jarre sind um ihn herum weitere 12 (zwölf!) teilweise säulenartige Projektionsflächen aufgebaut, was später für einen vielfach räumlichen Effekt der gezeigten Bilder sorgen wird. Das alles wird mit Konzertbeginn schlagartig zum Leben erweckt. Gleich Gänsehaut, denn mit „Magnetic Fields“ in der Originalversion beginnt der Abend. Bei dem modernisierten „Oxygene 2“ setzt er eine Brille mit Kamera auf, wodurch man auf den Leinwänden beobachten kann, was seine Finger so machen. Überraschenderweise finden wir da viel analoges Equipment; es wird mit Keyboards, Mixern und Reglern gearbeitet, weniger mit Tablets wie noch zuletzt. In der Anmoderation von „Arpegiator“ bricht Jean-Michel Jarre eine Lanze für Deutschland und deutsche Musikgeschichte. Dabei kommt er vor auf den kleinen Catwalk, setzt die Brille ab und spricht frei (auch wenn es befremdlich wirkt, dass auf den Videowänden deutsche Übersetzungen mitlaufen). Eine gesuchte Nähe zum Publikum, verbunden mit einem lockeren Auftreten kennen wir aus vergangenen Konzerten nicht. Dies macht den Abend zu etwas Persönlichem, sorgt für ein Gefühl der Nähe zu diesem Star und bringt Wärme in das Konzert trotz einer manchmal kühlen elektronischen Musik.

Diese Art der Moderationen finden in der Show mehrfach statt. Einmal bricht er dabei eine Lanze für KI. Vieles in dieser Show sei durch KI generiert. Nicht KI als solche sei gefährlich, sondern der Umgang mit ihr kann gefährlich sein, wenn sie durch die falschen Personen angewendet wird. Die Projektionen sehen wir als gestochen scharf, rhythmisch exakt auf den Punkt und voller verrückter Ideen. Jean-Michel Jarre bestreitet die Mega-Show auf der Bühne komplett alleine – durch KI erscheint es durchaus vorstellbar, dass er die vorbereiteten Sounds und Projektionen auch komplett alleine steuert. Mal sieht man eine Bühne voller gerahmter Gemälde und sich bewegender Bilder, mal eine Bühne voller verwaschener Farben oder geometrischer Formen, durch Laserlicht unterstützt. In „Robots Don’t Cry“ tanzen virtuelle Roboter auf der Bühne herum. Bei „Oxygene 4“ entdecken wir zwischen mit Schuhwerk bekleideten tanzenden virtuellen Beinen auf den Bildschirmen auf einmal tanzende Turnschuhe im Bühnenlicht… Das sind die Füße des Meisters, wie er gerade hinter seinen Keyboards tanzt! Manche im Publikum werden dies aufgrund des optischen Overkills gar nicht mitbekommen haben. Man muss bei der Umsetzung dieser Show-Idee bedenken, dass Jean-Michel Jarre nun auch schon auf die 80 zugeht. Auch wenn er die Gene zu haben scheint, nur langsam zu altern, und man es ihm wirklich nicht ansieht.

Etliche alte Stücke entdecke ich als modern instrumentiert. Andere Stücke kenne ich gar nicht. Es ist aber die Mischung zwischen alten, erneuerten und neuen Stücken, die den Abend so abwechslungsreich macht. Für jede Generation seiner Fans hat er etwas in petto. Wenn man ohne Fangehabe einer Generation seiner fast 50-jährigen Karriere offen und neugierig der Musik lauscht, ist zu konstatieren, dass wir einen musikalisch sehr ausgewogenen und abwechslungsreichen Abend erleben. Selbst für mich als Fan der ersten Stunde wäre eine Konzentration auf die alten Alben und deren 1:1 Abbildung auf der Bühne langweilig gewesen.

Es ist schwer, die Eindrücke dieses großartigen Konzertes zusammenzufassen. Erfreulich ist die Ankündigung, dass das Konzert aufgezeichnet wurde. Man darf gespannt sein, wann und in welcher Form diese Aufnahmen das Licht der Welt erblicken werden. Wir wünschen Jean-Michel Jarre weiter allerbeste Gesundheit und unermüdliche geistige Frische und Kreativität. Man hat den Eindruck, dass die Legende der elektronischen Pop-Musik noch viel vor hat. Ich denke, wir werden noch lange Freude an dem nimmermüden Franzosen haben.

Setlist:

Magnetic Fields
Epica Oxygene
Oxymore
Sex in the Machine
Oxygene 2
Arpegiateur
Zoolookologie
Equinoxe 7
The Architect
Zero Gravity
Exit
Industrial Revolution
Robots Don’t Cry
Herbalizer
Oxygene 19
Équinoxe 4
Brutalism
Oxygene 4
Epica
Stardust

Zugaben:

Rendez-Vous
Magnetic Fields 2

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