Gehen wir mal ins Jahr 1995 zurück. Ich erstand einen Sampler, „Silent Crying – Rock Ballads Against Nuclear Terror“ von Noise Records. Neben so bekannten Bands wie Gamma Ray, Sanvoisen, Angra, Stratovarius und vielen anderen, war auch ein Track der für mich da noch völlig unbekannten Band Ricochet drauf. „Angel“ hieß der Song, und es war eine wunderschöne Ballade. Die gefiel mir ausgesprochen gut, aber dabei blieb es dann erst einmal. Einige Zeit später hatte ich in einem Bochumer Plattenladen dann eine CD in der Hand. Ricochet – „Among The Elements“. Kurz mal umgedreht, ja „Angels“ war drauf, das müssen die wohl sein. Für 16,95 Mark dann auch spontan gekauft … und dann Rauf und Runter gehört. „Holy Bells“, „Among The Elements“ und so weiter. Die fand ich richtig gut, nur dann war Funkstille. Nichts mehr gehört, das zweite Album knapp 10 Jahre später völlig verpasst. Und jetzt komme ich über Jens Lueck (Single Celled Organism) wieder auf die Band … und ja, sie haben tatsächlich ihr drittes Album am Start! Es erscheint am 07.04.2023.
Tracklist:
1. The Custodians
2. King Of Tales
3. Farewell
4. Interception
5. Waiting For The Storm
6. Beyond The Line
7. Losing Ground
8. On A Distant Shore
9. Kazakhstan
Und wie ist der Stand fast wieder zehn Jahre später. Nun vom alten Lineup sind noch drei Musiker dabei, nämlich Keyboarder Björn Tiemann, Drummer Jan Keimer und Gitarrist Heiko Holler. Sie spielen, wie bereits erwähnt, seit den frühen 90ern zusammen. Bassist Hans Strenge ist mittlerweile ebenfalls bereits seit über 20 Jahren dabei, Sänger Michael Keuter seit fast 10. Michael Keuter spielte jahrelang in der Uriah-Heep-Coverband Easy Livin‘, machte aber
auch mit Kai Hansen und Michael Weikath von Helloween Musik. Keyboarder Björn Tiemann war in den späten 90er Jahren u.a. mit Kingdom Come auf Europatournee und auf deren letzten beiden Alben zu hören.
Warum nennt eine Hamburger Band ihr neues Album Kazakhstan? Kasachstan ist eine ehemalige Sowjetrepublik, die wenig Aufmerksamkeit erhält. Obwohl geographisch Zentralasien zugehörig, liegt Kasachstan zwischen Europa, China und der Arabischen Welt und Einflüsse dieser drei Regionen finden sich in Kasachstan wieder – so wie sich auch in der Musik von Ricochet verschiedene Einflüsse zeigen. Das Albumcover zeigt einen Surfer, der vor einem ausgetrockneten See steht. An dem Surfer zeigt sich der Widerspruch zwischen Resignation und Hoffnung; ob er ein heilloser Optimist, ein unbedarfter Naivling oder ein unverbesserlicher Rebell ist, aber das kann jeder nach dem Hören des Albums selbst entscheiden.
Ein Konzeptalbum ist Kazakhstan jedoch nicht. Kazakhstan will zeigen, dass das erste Album mit Michael Keuter von einem deutlich rockigeren und erdigeren Gesang geprägt wird. Das ist auch eine Umstellung wenn man nur das erste Album kennt, aber die geballte Power von Michael Keuters Stimme, er könnte locker in jeder Hardrockband mitspielen, benötigt das entsprechende instrumentale Gegengewicht und mündet nicht zuletzt in einem härteren Sound. Schon beim Opener „The Custodians“ wird dies deutlich. Große Hooks und ein prägnanter Refrain, aber ganz besonders wird es im Mittelteil, ein hervorragendes Gitarrensoli geht in einen orientalischen Part über um dann das Stück wieder mit dem großartigen Refrain zu beschliessen. „King Of Tales“ ist eine sehr rockige Nummer, die zum vorangegangen Track nochmal deutlich an Tempo aufnimmt. Aber auch hier sehr eingängige Refrains die sofort im Ohr hängen bleiben. Ein Highlight ist die nächste Nummer. „Farewell“ ist mit etwas von über neun Minuten fast schon ein Longtrack, und schleppt sich erst einmal so dahin, bis dann häufige Tempowechsel das Stück bestimmen. In seiner Grundstimmung sehr düster und bedrohlich. „Interception“ klingt sehr nach 70er Classic Rock, besonders genial sind hier die Keyboards und das Gitarrensolo, fast schon die obligatorische Ballade, oder kommt da noch was? „Waiting For The Storm“, wie der Titel schon sagt, das Tempo wird wieder angezogen, während “ Beyond The Line“ wieder progressiver daherkommt und ein kerniges Riff führt über einen
Taktwechsel zum harmonisch anspruchsvollen Refrain, während das Songende wieder mit vollem Speed durchstartet. „Losing Ground“ ein Stück voller Melancholie und auch hier wieder mit einem eingängigen Refrain. Mit „On A Distant Shore“ kommt dann doch noch die Ballade, mit akustischen Gitarren, schönen Refrain, aber nie ins kitschige Abgleitend. Den Abschluss bildet der Titeltrack „Kazakhstan“. Mehr im Midtempobereich angesiedelt und wieder mit vielen progressiven Elementen gespickt und einem ausufernden Keyboardsolo am Ende.
Der Sängerwechsel beeinflusste auch das Songwriting, welches insgesamt kompakter, kraftvoller und klarer geworden ist und Einflüsse der 70er Jahre mit aufnimmt. Dabei treten immer wieder progressive Anteile zutage, wie sie für Ricochet typisch sind. Die Songs sind stets melodisch; eine Vielzahl an verschiedenen Tempi, sowie die charakteristischen Takt- und Tonartenwechsel machen die Musik abwechslungsreich. Musikalisch verorten lässt sich dieses Album in den Übergangsbereichen von Progressive Rock, klassischem HardRock und Metal. Ich für meinen Teil bin froh Ricochet „wiederentdeckt“ zu haben und hoffe sehr auf baldige Liveaktivitäten …
Wertung: 8.5 | 10
Line-Up:
Michael Keuter (voc)
Heiko Holler (git)
Hans Strenge (b)
Björn Tiemann (key)
Jan Keimer (dr)