Livereport: 2 Days Prog + 1 Festival 2023 – Auditorium Forum 19 in Veruno (Vorspeise)

Während auf dem Sportplatz in Revislate die letzten Zutaten für die Hauptspeisen angerührt werden, um die Bildsprache meines Kollegen Roland Koch beizubehalten, sind im beschaulichen Örtchen Veruno die Antipasti bereits angerichtet. Interessierte Fans können diese an den drei Festivaltagen ab 16:00 Uhr im Saal des Auditoriums Forum 19 zu sich nehmen. Bis auf eine Ausnahme wird in diesem Jahr ausschließlich heimische Kost serviert, am Freitag traditionell Italo proggig, am Samstag ist die Kost etwas mehr ‚al dente‘, sprich rockiger, und am Sonntag gibt es zunächst etwas aus der modernen Küche, bevor wir zum Abschluss einen Leckerbissen aus Frankreich genießen können.

Wenden wir uns der traditionellen Vorspeise des Freitags zu. Die Band Cormorano aus der Region Emilia-Romagna wurde bereits 1975 gegründet. Mit Sänger Raffaello Regoli, Schlagzeuger Antonio Dondi und dem Saxophonisten Gabriele Giovanardi gehören noch drei Gründungsmitglieder zur aktuellen Besetzung der Band. Nur bleibt die Position am Saxofon am heutigen Tag unbesetzt. Nach diversen Trennungen und Umbesetzungen kehrte die Band 2020 in neuer Besetzung zurück zu ihren Wurzeln.

Zu einer Mischung aus typischem Italo-Prog mit Elementen aus Jazz und Rhythm & Blues kommt der kehlige Obertongesang von Raffaello Regoli. Der erste Song der Band Obliquizione wird als Video eingespielt. Auf düsteren Pianoklängen wird der Satz „Diese Demokratie ist tot, und jeder Versuch, einen anderen Staat zu schaffen, ist völlig unmöglich, außer durch eine große Revolution.“ zerpflückt und mit einem kontinuierlichen Zyklus von fünf Stimmen zu je neun Silben in einem pseudosymphonischen Kontext rekonstruiert. Das, was ich hier zu beschreiben versuche, muss man einfach gehört haben. Der Song ist ein eindrucksvolles Beispiel, in dieser experimentellen Art zu singen, die Raffaello Regoli als Freund und Schüler von dem griechischen Sänger und Multiinstrumentalisten Demetrio Stratos (Area) erlernte.

Doch auch live weiß das Quintett zu begeistern. Songs wie 25 Aprile oder Disarmoritmo, alle vom neuen Album Obliquizioni d’Autunno… prima che l’aquilone se ne voli via, werden mit viel italienischer Leidenschaft interpretiert. Raffaello Regolis spektakuläre Gesangsakrobatik eröffnet auch das Stück Nuovi Colori, das bereits 1984 geschrieben wurde. Der beschwingte Song Cormorano bringt die „mediterrane Seele“ des Italo-Prog zum Klingen, die auch für Songs der Bands PFM oder Osanna so typisch ist. Viele der Stücke werden mit eindrucksvollen Videos hinterlegt. Es ist eine köstliche Vorspeise, die uns die Band serviert, und sie macht Appetit auf mehr. Einen Kritikpunkt gibt es jedoch. Der große Redeanteil von Raffaello Regoli raubt viel kostbare Zeit, die die Band besser mit ihrer großartigen Musik gefüllt hätte, zumal Regoli ausschließlich italienisch spricht, was von den meisten der internationalen Gäste nicht verstanden wird.

Am Samstag ist die Vorspeise im Forum 19 etwas deftiger. Die Band VIII STRADA aus Mailand startete Mitte der 1990er Jahre als Prog-Metal-Band. Ein Jahrzehnt später kam es zu einer radikalen Besetzungsänderung, so dass von der ursprünglichen Band lediglich Sänger Tito Vizzuso und Keyboarder Silvano Negrinelli übrigblieben. Die drei neu hinzugekommenen Musiker sorgten für neue musikalische Einflüsse. Die Band selbst sieht sich als eine musikalische Werkstatt, in der Harmonie, Klänge und Worte zusammengeschmiedet werden, um Songs zu schaffen, deren wesentliches Ziel es ist, einen Geisteszustand zu vermitteln und Emotionen mit dem Zuhörer zu teilen. Wie das gelungen ist, zeigt ihr Konzert in Veruno.

Die Band spielt ein Set mit Songs ihrer beiden Alben La Leggenda Della Grande Porta (2008) und Babylon (2015) sowie zwei Coverversionen der italienischen Bands Area und PFM. Auch bei VIII STRADA ist die Leidenschaft spürbar, mit der die vier Musiker ihre Songs präsentieren. Ja, die Band tritt in Veruno nur als Quartett auf, die Keyboard-Sounds kommen von der Konserve. Weshalb Keyboarder und Songschreiber Silvano Negrinelli nicht mit auf der Bühne steht, kann ich nicht ergründen. Doch seine Abwesenheit fällt angesichts der Spielfreude seiner vier Kollegen nicht ins Gewicht.

Der charismatische Sänger Tito Vizzuso überzeugt nicht nur mit seiner voluminösen Stimme. Auch seine Bühnenpräsenz ist beeindruckend, ein typischer Frontmann einer Rockband eben. Die Band spielt sehr kraftvoll und dynamisch, erzeugt dabei viele wechselnde Stimmungen. Jeder einzelne Musiker überzeugt im Zusammenspiel sowie als Solist. Gitarrist Daniele Zigliani spielt filigrane Soli und zeigt bei Laguna di Giada, dass er auch mit der Akustikgitarre umzugehen weiß. Bassist Sergio Merlino lässt ab und zu auch mal den Fretless-Bass knarzen und Schlagzeuger Sigfrido Percich bekommt zwischen den Songs Sinergy und Ulysses Raum für ein kleines Drum-Solo. Der gelungene Auftritt von VIII STRADA wird mit gebührendem Beifall belohnt, bevor sich die Gäste auf den Weg zu den heutigen Hauptspeisen machen.

Die Türen des Forum 19 werden am Sonntag eine halbe Stunde früher geöffnet, denn heute gibt es zwei Vorspeisen. Besonders die zweite lockt eine Vielzahl Gäste in das kleine Auditorium. Zunächst erleben wir mit dem Wilson Project eine junge Band aus dem Piemont, die sich dem Progressive Rock verschrieben hat. Die vier Musiker*innen, mit einem Altersdurschnitt von 23 Jahren, starteten ihr Bandprojekt vor über zwei Jahren. Zunächst spielten sie die ersten beiden Alben von PFM auf ihren Konzerten nach. Später wagten sie sich an Songs von Genesis und Emerson, Lake & Palmer. Doch Nachspielen reichte ihnen nicht. Sie wollten eigene Songs kreieren.

Im Ergebnis entstand ihr Konzeptalbum Il Viaggio Da Farsi, das sie im Juli 2022 veröffentlichen konnten, und das heute Hauptbestandteil ihres Konzertes ist. Inspiriert vom Start von Elon Musks Falcon Heavy erzählt das Album die fiktive Geschichte einer Frau, die die Erde verlässt, um zum Mars zu reisen. Sie versucht, das Fehlen ihrer Welt zu kompensieren, indem sie auf dem neuen Planeten eine Kopie der alten Welt nachbaut. So sollte es nicht verwundern, dass Keyboarder Andrea Protopapa und Bassist Stefano Rapetti mit Raumanzug ähnlichen Hosen auftreten.

Auf der Leinwand laufen während des Konzerts Filmsequenzen über einen Raumflug. Die Musik der Band ist oft erstaunlich komplex, ist geprägt von Tempowechseln und Gesangseinlagen, für die Sängerin Annalisa Ghiazza verantwortlich zeichnet. Nicht nur das, Annalisa spielt auch immer mal wieder auf dem EWI, dem Electric Wind Instrument mit dem man Klänge wie von Saxofon, Oboe, Flöte usw. erzeugen kann. Damit sorgt sie für interessante Klangfarben, die das Fehlen einer Gitarre nicht vermissen lassen. Auch wenn der Gesang von Annalisa manchmal etwas dünn und zerbrechlich klingt, zeugt die Band mit den Songs ihres Albums von Kreativität und Können. Der erste Preis des italienischen Band Contests „Intervallo…Prog“, der die Band schließlich hierhergeführt hat, ist verdient gewonnen. Firth of Fifth von Genesis dann noch zu covern, schreibe ich jugendlichem Übermut zu. Aus meiner Sicht hätte dieses Wagnis nicht notgetan.

Bereits vor einem Jahr erlebten wir das sympathische Duo Franck Carducci & Mary Reynaud an gleicher Stelle mit einem grandiosen Konzert. Als zweite Vorspeise erleben wir sie auch heute wieder, diesmal mit ihrem Projekt „Naked“, bei dem sie Songs des gleichnamigen Albums zum Besten geben. Franck hat in den vergangenen 10 Jahren eine beeindruckende Karriere hingelegt. Mit seiner Band war er Gast auf vielen Festivals. Bereits 2014 trat er mit seiner Band hier in Veruno beim 2 Days Prog Festival auf. An seiner Seite steht seit jeher Mary Reynaud, quasi als perfekte Gegenspielerin, als Musikerin, Sängerin, Tänzerin und Song-Schreiberin. Dass die Chemie zwischen den beiden stimmt, wissen all diejenigen, die schon Konzerte von Franck Carducci & Band erlebt haben.

Heute präsentieren sie Songs aus ihrem gemeinsamen und individuellen Schaffen, quasi unplugged. Egal ob sie das beschwingte Under the Figtree singen, Francks Hit A Brief Tale of Time oder Marys Ballade Demain Je Partirai performen, sie erzeugen mit ihrer Musik eine Atmosphäre, in der man sich wohlfühlt. Das Bruce Springsteen Cover Dancing in the Dark verleitet zum Klatschen und zum Mitsingen. Und Francks wohl größter Hit, Alice’s Eerie Dream, fehlt natürlich auch nicht. Die beiden sehen ihr Album als Geschenk an ihre Fans, als Dankeschön für die Treue über die vielen Jahre. Dieses Geschenk wird von den anwesenden Gästen begeistert angenommen. Bleibt zu hoffen, dass die beiden dann auch mal wieder mit ihrer Band auf der großen Bühne spielen dürfen. Wir machen uns gut gelaunt auf den Weg dorthin. Auch Franck und Mary wird man auf dem Festivalgelände treffen können.

Text und Fotos: Bodo Kubatzki

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