Livereport: 2 Days Prog + 1 Festival 2023 – Revislate (Hauptspeise)

Das erste Wochenende im September steht vor der Tür und für echte Liebhaber der anspruchsvollen Rockmusik in Mitteleuropa kann das nur eines bedeuten: es ist im Piemont wieder für das 2 Days Prog + 1 Festival üppig angerichtet! Bis heute hatte Italiens führendes Live-Prog-Event am Festivalwochenende immerhin 139 verschiedene Gruppen auf der Hauptbühne zu Gast, sowie weitere 21 Bands im lokalen Club Auditorium. Das musikalische Menü ist auch diesmal wieder einmal hervorragend angerichtet, im Forum 19 Veruno die Vorspeisen (darüber berichtet Bodo), auf dem Rasenplatz des Sports in Revislate die Hauptspeisen und die Nachspeisen sind die vielen schönen Erlebnisse drum herum.

Nach langer Anreise nach Revislate im Piemont erleben wir, wie das Fan-Leben über fünf Tage läuft. Auffällig, dass diesmal viele Besucher nur für die Haupt-Acts des Tages; Pain Of Salvation, Big Big Train, Ozric Tentacles, anreisen und meist in derselben Nacht wieder verschwunden sind. Einige bauen sogar nur für eine Nacht ihr ganzes Equipment auf. Das nenne ich ‚brennen für die Lieblingsband‘. Donnerstagnacht sieht alles noch unfertig und verlassen aus. Das ändert sich aber am nächsten Morgen, Aktivität überall. Die Händler bauen ihre Waren auf. Diesmal sind es einige mehr als 2022. Keine Überraschung, denn 2 Days Prog + 1 ist inzwischen in ganz Europa eine der ersten Adressen. Dazu zählt auch das ungewöhnliche Premium Catering mit kulinarisch feinen Sachen. Hier wird vieles geboten, was wir an der italienischen Gastronomie lieben. Allein das ist schon ein Anreiz, hier mal seine Zeit für ein Festival-Wochenende zu verbringen. Weltklasse Künstler im Open-Air-Club mit erstklassiger Infrastruktur, dazu Legionen von lächelnden gutgelaunten Menschen. Was haben wir auch 2023 auch wieder für armselige Veranstaltungsorte besucht, aber das ist ein anderes Thema.

Bereits der Freitag verspricht einige sehr delikate Hauptspeisen. Den Beginn macht La Cruna Del Lago aus der Toskana. Vier erfahrene Bühnen-Brüder haben beschlossen, sich zusammenzutun und ein brandneues Projekt zu gründen. Das italienische Quartett hatte bereits 2021 beim Trasimeno Prog Festival ihr Live-Debüt. Im April 2022 veröffentlichte die Band dann das Album Schiere Di Sudditi.

Sie treten hier in Revislate mit zwei Gästen auf. Den Schlagzeuger haben sie leider fast unsichtbar hinter einer Plexiglaswand versteckt. Die progressive Musik wird erfrischend locker und rockig präsentiert, die Gesangsteile in Italienisch sind dazu passend. Es ist ein kurzweiliger Auftritt und eine würdige Eröffnung der Prog-Festspiele am Lago Maggiore.

Und nach kurzer Umbaupause geht es mit erfahrenen Musikern weiter. Das legendäre Kollektiv Abel Ganz aus Glasgow, Schottland, präsentiert ihre klassische Prog-Musik mit kleinen Prisen von Jazz & Fusion sowie Canterbury & Folk. Die ersten beiden Bands passen haargenau zusammen, eine sehr feinfühlige Auswahl des Veranstalter-Teams um Alberto Temporelli.

Der zweite Teil des Abends ist für Gourmets der etwas härteren Fraktion. Über den Tag ist die Besucherzahl stetig angewachsen, das Gelände füllt sich mit Rockern und die Stimmung wird ausgelassener. Auf Startplatz drei bläst nun die Star-Band O.R.k. den Besuchern erst einmal mit einer Klangwelt voller kontrolliertem Chaos die Ohren frei. Das Quartett wurde von drei genialen Köpfen des internationalen Prog ins Leben gerufen: Pat Mastelotto (King Crimson, Tu-Ner), Carmelo Pipitone (Marta Sui Tubi, Dunk) und Colin Edwin (Porcupine Tree).

Sänger Lorenzo Esposito Fornasari alias LEF ist hier auf dem Campo Sportivo natürlich auch dabei, Mastelotto jedoch nicht. Er wird aber durch die außergewöhnliche Schlagzeugerin Michaela Naydenova (Nervosa) gleichwertig ersetzt. Die Band spielt fast das komplette aktuelle Album Screamnasium und vier Titel vom Vorgänger Ramagehead (2019) perfekt und druckvoll.

Die Schweden Pain Of Salvation braucht man nicht mehr explizit vorzustellen. Diese Formation ist nach fast 40 Jahren schon länger verdient in der obersten Liga des progressiven Hardrock angekommen. Sie füllt mit gleichbleibender Qualität, Studio & Live, die Lücke, die andere Genre-Bands hinterlassen haben. Frontmann Daniel Gildenlöw ist einer der besten Sänger in dieser harten Fraktion. Er hat Volumen, beherrscht alle Nuancierungen und hat Charme sowie Charisma obendrauf. Und er ist eine echte Rampensau, auch an allen Saiten-Instrumenten.

Die 12 Titel bestehen zu je einem Drittel von den letzten beiden Studio-Alben plus The Perfect Element: Part I (2000). Alles ist geschickt ineinander geschichtet und wirkt wie aus einem Guss. Das Publikum geht begeistert mit und belohnt die Akteure mit immer wieder aufbrandendem Applaus. Damit erarbeitet es sich eine üppige Zugabe.

Kaum sind die letzten Nachtschwärmer in ihren Schlafstätten verschwunden, herrscht mitten in der Nacht helle Aufregung im Camp. Zwei doppelstöckige Big Big Busse sind eingetroffen und versperren alle Zufahrten. Die ganze Nacht laufen durchgängig ihre Motoren und Stromaggregate. Super, wenn es den Herrschaften aus Britannien gut geht. Aber schon mal vorausgeschickt, der Auftritt des britischen Kammer-Orchester Big Big Train gelingt eher mittelmäßig.

Fantastisch gut fängt der Samstag dafür mit dem jungen Art-Rock-Trio Dim Gray aus Norwegens Hauptstadt an. Die drei Studienkollegen haben nun, nachdem sie nun in aller Munde sind, mit zwei zusätzlichen Musikern aufgestockt. Hier setzt das Quintett gleich mal ein rockig-melancholisches Ausrufezeichen mit Titeln aus ihren zwei hochgelobten Alben Flown und Firmament. Sänger und Tastenmann Oskar Holldorff sehen wir später noch einmal mit Big Big Train.

Und noch eine Schippe drauflegen können District 97. Im Herbst 2006 in Chicago gegründet, hat dieses ebenso junge, aber erfahrene, wie auch kraftstrotzendes Quintett, inzwischen über ein Dutzend Alben eingespielt. Natürlich ist die talentierte, wilde Frontsängerin Leslie Hunt immer eine Erwähnung wert. Aber man wird damit dem gesamten 5-teiligen Band-Kollektiv nicht gerecht. Denn die vier US-Männer sorgen durch anspruchsvollen und abenteuerlichen Einsatz ihrer Instrumente für einen voluminösen Klangteppich, auf dem sich die quirlige Sängerin austoben und ihre akrobatischen Einlagen auf der Bühne zeigen kann.

Eine ausgezeichnete Vorstellung und passgenaue Vorlage für die britischen Musiker von Pure Reason Revolution. Inzwischen pausiert ja die charismatische Frontstimme Chloe Alper bei diesen Alternative-Proggern. Dafür hat die ebenso fragile Annicke Shireen hat erst einmal ihren Platz eingenommen. Ich bezweifle, dass alle vorgetragenen weiblichen Gesangsteile unverfremdet von der niederländischen Keyboarderin stammen, dafür ist Chloes Stimme zu speziell.

Mit vier Titeln vom Debüt The Dark Third ist das alte Material nach wie vor Schwerpunkt, und das wird besonders von den Fans gefeiert. Dennoch überzeugen die fünf Akteure auch bei den anderen Kompositionen mit ihrer explosiven Melange aus Art & Ambient, Electronica, Rock verschiedenster Ausprägung. Pure bombastische Sound-Kulissen werden hier übermächtig vor die Bühne geworfen. Da wackeln sogar die Stuhlreihen und Absperrungen.

Nach stetiger dynamischer Steigerung ist der Vortrag des Kammer-Orchesters von Big Big Train aus meiner Sicht ein kleiner Dämpfer. Elf großartige Musiker in zwei Reihen auf der Bühne, hinten die vierköpfige Bläser-Truppe und das Schlagzeug, vorn die Solisten und Sänger um Mitgründer Gregory Spawton, das sieht schon imposant aus. Auch klanglich gibt es nichts zu meckern.

Mir ist diese Vorstellung aber etwas zu steril und einstudiert, wenige echte signifikante Besonderheiten oder Überraschungen. Aber wie gesagt, das ist vielleicht etwas zu übertrieben und auch unfair nach dem 3-teiligen Rockgewitter davor. Leider vergleiche ich hier mit der Magie des Konzerts auf dem Night Of The Prog Festival 2018, als uns Zeremonienmeister David Longdon verzaubert hat. Da hatte zwar auch alles Dramaturgie, aber ebenso viel Lebendigkeit und deutlich mehr Esprit.

Irgendwann in der Nacht verschwinden die zwei Big Big Busse in Richtung Schweiz. Das ganze Camp atmet auf. Es kehren wieder Ruhe und Normalität zurück. Auch die heutigen vier Hauptspeisen des Sonntags haben es in sich. Zu Beginn erst einmal zwei Leckereien aus dem heimischen Italien.

Mit Il Segno Del Comando aus der Nachbarschaft Genua beginnt wieder einmal eine Band aus dem schier unerschöpflichen Reservoir italienischer Prog-Perlen. Durch meine regelmäßigen Besuche beim 2 Days Prog + 1 Festival hat sich vor mir ein Teil der imposanten, facettenreichen hiesigen Prog-Szene ausgebreitet und sich mir dadurch auch die Vielfalt und Kreativität der Musik südlich der Alpen zunehmend erschlossen. Das auftretende Quintett musizierte bereits 1995 zusammen und spielt Dark-Prog-Titel aus ihrer gesamten Karriere. Nicht nur die Italiener rufen Bravi, sondern auch die vielen internationalen Gäste.

Danach tritt für 2023 die letzte italienische Band auf dem Musik-Sportplatz an. Karmamoi, 2008 von Schlagzeuger und Komponist Daniele Giovannoni gegründet, haben immerhin schon sechs gute Studio-Alben vorzuweisen, eines davon in Italienisch gesungen. Sie sind inzwischen ein Geheimtipp in der europäischen Prog-Szene.

Das sympathische Quartett um Daniele, bestehend aus Alex Massari (Gitarren), Alessandro Cefalì (Bass) und Valerio Sgargi (Vocals, Keys), hat sich bereits auf vielen internationalen Festivals bewährt. Auch hier in der Heimat zündet das präsentierte Material sofort. Am traumhaften Zusammenspiel erkennt man die Qualität und Erfahrung der Band sofort. Pause und harter Schnitt vor der zweiten Halbzeit.

Unitopia, ein bezaubernder Ort an dem man in idealer Vollkommenheit zusammenlebt, insbesondere in Bezug auf Gesetze, Regierung, soziale Bedingungen. Ein Traum ?? Für mich wird das mit jedem erlebten Tag immer abstrakter. Dennoch habe ich weiterhin Hoffnung, Visionen und Ziele. Vielleicht ist deshalb die Formation Unitopia für mich sofort ein starker Mitbewerber für die diesjährige Kammer-Musik-Krone.

Wer bisher alles genau gelesen hat, kann sich denken, wer von den beiden Orchestern hier im Piemont den Sieg errungen hat. Natürlich die Uni-Welt-Truppe mit Wurzeln in Ozeanien. Umweltbewusstsein, globale Umwälzungen, aktuelles Leben und Strukturen sind das thematische Rahmenwerk für die Musik mit Elementen von World, Klassik, Jazz, Rock, gewürzt mit Moderne & Groove. Und was die Vordenker Mark Trueack (Vocals) und Sean Timms (Keys) zusammen mit Multi-Instrumentalist Steve Unruh, Schlagzeuger Chester Thompson, Gitarrist John Greenwood und Bassist Don Schiff abliefern, ist absolut sehens- und hörenswert.

Und das sind The Garden (2008) komplett und der Titel Tesla von Artificial (2010). Diese Sogwirkung hätte ich von einer anderen Big-Band erwartet, aber diesmal konnten es nur diese sechs Musiker von Unitopia aufbauen. Die Menschen vor der Bühne sind diszipliniert und gebannt wie bei einem klassischen Konzert in der Philharmonie. Der aufbrandende Applaus setzt erst nach dem letzten Ton ein.

Und dass danach ein Rhythmus-Monster den Tag abschließend sollte, ist überraschend passend. Die Vorarbeit dazu hatte Unitopia kollegial geleistet. Seit ihrer Anfangszeit bin ich begeisterter Fan von den britischen Ozric Tentacles, habe fast alles im Archiv, was dieses Musik-Kollektiv jemals veröffentlicht hat. Leider hatte ich nie das Glück, diese Truppe mal live zu erleben. Diesmal hat es endlich geklappt. Schon beim Einspielen am Vormittag zog es mich an die Bühne, und konnte mich von den druckvollen Qualitäten dieser Formation überzeugen.

Gründer Ed Wynne wird in der Frontreihe von Ex-Frau Brandi Wynne am Bass (Nachfolgerin vom 1999 verstorbenen Bruder & Mitgründer Roly Wynne) und Sohn Silas Neptune Wynne am Tasten-Arsenal unterstützt. Dahinter an der Trommelburg leistet seit 2022 Tim Wallander Schwerstarbeit. Die Flötistin Saskia Maxwell (Ambient-Duo Silas & Saski) komplettiert die aktuelle Gruppierung, spielt oft mit Silas vierhändig dessen Synthesizer.

Was mir besonders imponiert ist, dass die Ozrics Material aus allen Phasen und 10 verschiedenen Alben, von Tantric Obstacles (1985 nur MC) bis Lotus Unfolding (2023) präsentieren, und das homogen wie aus einem Guss. Die Zeit der Feierbiester ist angebrochen. Der audiovisuelle Trip in der lauen Sommernacht nimmt Fahrt auf, und das besonders, nachdem Ed dazu auffordert, an die Bühne zu kommen. Immer mehr springen auf den Party-Shuttle auf. Wie letztes Jahr bei Solstice, Gong und Tangerine Dream, kollektives Zusammenleben. Wie bei vielen von mir erlebten Konzerten im vergangenen Jahr, erneut sind es spektakuläre Zeitreisen in die 70er und 80er.

Was bleibt zu resümieren. Wieder einmal eines der besten, wenn nicht das Beste, Rock-Festival anspruchsvoller Rock-Musik in diesem Jahr. Der Veranstalter hat wieder alle Versprechen gehalten und in Sachen Programm, Technik, Camp, Versorgung, die gesetzten Maßstäbe voll erfüllt. Die Gewinner waren für mich die Hauptspeisen O.R.k., Pain Of Salvation, District 97, Pure Reason Revolution, Unitopia, Ozric Tentacles. Aber insgesamt war das gesamte dreitägige Festival erneut eine Sensation. Hier könnte man eigentlich alle 16 Formationen aufzählen. Ich freue mich jetzt schon auf die preiswerte Doppel-DVD mit den begleitenden, permanenten Videomitschnitten des visuellen Potpourris von 2023. Auch hier wieder ein Alleinstellungsmerkmal. Mein Dank geht stellvertretend für alle Künstler, Besucher und Helfer an das fantastische Veranstalter-Kollektiv. Hier sollten sich andere Veranstalter in Europa ein Beispiel nehmen.

Text: Roland Koch | Fotos: Bodo Kubatzki

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