Es gibt in jeder nationalen Hochburg der anspruchsvollen Rockmusik weltweit Musiker und Bands die obwohl sie alles richtigmachen; extragute Musik, viele Auftritte, stabiles Bandgefüge, einfach nicht den Sprung über die letzten Hürden schaffen, besonders hier im deutschsprachigen Raum. Ich habe schon oft und viel darüber nachgedacht und bin immer wieder zum Schluss gekommen, dass es sicher nicht an den Künstlern liegt. Wie noch viele andere, machte sich auch Kollege Thomas darüber Gedanken und schrieb mal: „Man fragt sich, warum diese Band bislang noch nicht zumindest zu den Szene-Grössen gehört und auch noch nicht auf diesen Seiten rezensiert wurde.“ Die vielen Gründe möchte ich jetzt nicht thematisieren, aber hiermit wieder eine Truppe von Musikern vorstellen, die es richtig gut gemacht haben und erfreulich immer noch machen.

Glistening Dawn – Ende 1997 gründeten fünf Hochschul-Studenten aus Neubrandenburg am Tollensesee, Mecklenburg-Vorpommern (MV) eine Band, die sich dann ab 1998 Glistening Dawn nannte. Die Stammbesetzung der Band waren der Sänger und Lyriker Jan Mecklenburg (stammt aber witziger weise aus dem Emsland), Gitarrist Christoph Piel, Keyboarder Bert Wenndorff (Mohnblau) und Schlagzeuger Marcus Unverricht. Bert, Christoph und Jan wohnten später sogar mal in einer Studenten-WG zusammen. Außerdem waren drei Bassisten zu unterschiedlichen Zeiten dabei: Volker Mattausch (1998, Abbey Keezer), Martin Holfter (1998-2002) und Georg Saßnowski (2002-2004, Morbidia, Ötzi’s Enkel). Zunächst als Cover-Band auf Hochschulfesten, Kneipenmeilen und kleinen Clubs unterwegs, entstanden bald auch eigene Songs, was dann schnell zur deren Priorität wurde. Beeinflusst von Bands wie Deep Purple, Black Sabbath, Pink Floyd, King Crimson, Yes, Spock’s Beard und vielen mehr nahmen sie drei Alben auf: „Wonderous Stories“ (Sommer 1998, Demos, Eigenvertrieb), das Debüt „Travellers In Space And Time“ (2002), „Tales From Beyond…“ (2004, Remix/Remaster 2014).

Die lange 16-minütige Komposition „The End Of Childhood“ schaffte es 2007 auf den Sampler „Hope/Omid“ des deutschen Spock’s Beard Fanclub The Bearded und bekam darüber hinaus einige wohlwollende Kritiken, unter anderem vom erwähnten Thomas auf den Baby-Blauen-Seiten. Die drei Alben sind leider, auch laut Aussagen der Band, nicht auf wirklich viel Interesse gestoßen. Zudem waren Auftrittsmöglichkeiten in der Provinz eher überschaubar und das ist leider wohl bis heute so geblieben. Auch aufgrund der veränderten Lebenssituationen der Musiker, mussten sie leider Ende 2004 die Band nach sieben aufregenden Jahren auflösen, das Kapitel Glistening Dawn wurde damit erst einmal geschlossen. Das letzte Album „Tales From Beyond…“ wurde 2014 erneut gemischt, da die seinerzeit erschienene Eigenvertrieb-Version noch einige Wünsche offengelassen hatte. Auch hier wieder diese fast schon pingelige Akribie und Doppeldeutigkeit: Geschichten aus dem Jenseits, die der Vergangenheit angehören (Tales Fom Beyond – Well For The Past). Dieses Allerlei aus den Proberaum-Demos und den Aufnahmen bei Sieghart Schubert, ein bekannter DDR Rock- und Jazz-Musiker sowie Produzent mit eigenem Tonstudio in MV, funktionierte tatsächlich und kann nun noch auf den entsprechenden digitalen Plattformen angehört werden.

Dawnation – Der Keyboarder Bert Wenndorff kehrte 2014 nach sechs Jahren in Berlin, er spielte aber mit Christoph Piel weiterhin noch in der Magical Mystery Band, wieder dauerhaft zurück nach Neubrandenburg. Im Frühjahr 2017 traf er sich mit Gitarrist Christoph und Sänger Jan Mecklenburg erstmals seit 12 Jahren wieder um bei ein paar Bierchen über eine mögliche Reunion von Glistening Dawn zu spekulieren. Schnell wurde man sich einig, wie sie selbst sagen war die Zeit reif dafür, trafen sich wieder um an ausschließlich neuem Material zu arbeiten. Das basierte anfänglich zum Teil auf unfertigen Ideen aus früherer Zeit, zwischenzeitlich aufgenommenen individuellen Demos, aber auch völlig neuem. Da das ehemalige Rhythmus-Duo von Glistening Dawn nicht mehr zur Verfügung stand, fand das Trio der Ehemaligen zunächst Clemens Reichard als neuen Schlagzeuger und Robert Reich den ehemaligen Tief-Frequenz-Zupfer der deutschen Pop-Band Mohnblau. Auch besonders durch den Einfluss der beiden Neuzugänge an Bass und Schlagzeug wurde schnell klar, dass auch ein neuer Bandname gefunden werden musste. Zumal auch kein einziger Titel aus der Glistening Dawn Zeit wieder mit aufgenommen wurde. Seit 2018 hießen sie nach langem internen Ringen dann Dawnation. Damit war auch namentlich ein Bezug zur Vergangenheit hergestellt, der dann Mitte 2023 mit „…Well For The Past“ noch einmal enger verknüpft wurde. Wieder einmal erfreulich, eine Band der die Musik als kreativer Ausdruck allein nicht reicht, sondern auch alle anderen Aspekte in Text, Bild, Video, Grafik, Design, Strategie, aber auch Helfer an Instrumenten und Technik sehr wichtig sind. Wer die Werkschauen genau liest wird die Verbindungen zu einigen anderen Künstlern finden. Allesamt Aushängeschilder der anspruchsvollen deutschen Rockmusik.

The Mad Behind – Schon 2018 begannen dann die Aufnahmen für ein neues Album. „Blaulackierter Faschist“ war paradoxerweise der erste Song über einen Heuchler, sogar mit einem deutschen Text. Eine wütende Anklage an alle versteckt verkopften Faschisten, die plötzlich in einer populär gewordenen, unsäglichen, angeblich demokratischen Partei, eine neue Öffentlichkeit gefunden haben. Ein treibender Rocker mit schöner Melodie und Text, den es leider nur Digital gibt. Die englische Version heißt passenderweise „The Hypocrite“, ist noch druckvoller arrangiert und produziert. Im Mittelteil sogar zu Marschierenden auch mit Cellospiel von Thorsten Harder. Insgesamt wurden erst einmal acht englischsprachige Titel aufgenommen. Mit dabei als CD-Bonus „Mr. Trumpet“, noch einmal eine sozialkritische Komposition mit Kinderchor (wie bei The Wall) beim Ausblenden. Alle Titel in Qualität die international standhalten können. Beim Debüt von Dawnation schimmert auch immer etwas Traditionelles von Glistening Dawn oder den Helden ihrer Zeit als Cover-Band durch. „The Mad Behind“ ist angelehnt an die Prog-Hymne „Behind The Mad“.

Auch hier wird das gesellschaftspolitische Chaos der damaligen Zeit textlich deutlich angesprochen. Im Sommer 2019 wurden die Aufnahmen abgeschlossen. Für das Mastering konnte der erfahrene Saitenzupfer Thomas Morgenstern (Die Zinnförster, The Ant Band) gewonnen werden, der schon Aufnahmen von mehreren Dutzend Künstlern als Tontechniker zu gutem Wohlklang verholfen hatte. Thomas Morgenstern: „Das Album besteht jeden Vergleich mit teuren Industrie-Studio-Produktionen! Die Abmischungen waren so gut, dass ich beim eigentlichen Mastering letztlich gar nicht mehr viel zu tun hatte. Ich habe mich gefreut, diesen Prozess ein wenig begleiten zu dürfen.“ T.J.F. Rauch, auch ein Künstler aus Neubrandenburg, stellte dankenswerterweise eines seiner Bilder (Collage, Ihr Seid Das Licht Der Welt I) für das zum Titel passende Cover zur Verfügung, frei nach dem Motto: Kunst unterstützt Kunst. Das bemerkenswerte 60-minütige Debüt „The Mad Behind“ erschien im vierseitigen Digipak November 2020 und hatte berechtigt hervorragende Rezensionen in Druck-Magazinen wie Eclipsed, Empire oder Rock Hard und Digital bei Betreuten Proggen, Babyblauen Seiten oder Stone Prog bekommen. Aber der Zeitpunkt der Veröffentlichung war leider, natürlich unbeabsichtigt, ungünstig mitten in der Pandemie und deswegen war eine Live-Präsentation des Albums praktisch unmöglich.

…Well For The Past – Aber erst einmal zurück zur ungeplanten Kultur-Pause wegen Corona, also keine Treffen, Proben und Aufnehmen unter Lock-Down-Bedingungen, keinerlei Auftritte und dazu viele weitere Barrieren und Hemmnisse. Dennoch begann Dawnation dann recht schnell, neue Songs zu schreiben und die auszuprobieren. In dieser Zeit trennten sich auch die Wege von Band und Schlagzeuger Clemens Reichard. Mit Damian Krebs (The Ant Band, Porto) kam dann zum Glück schnell wieder ein kompetenter, vielseitiger, kreativer Schlagzeuger in die Truppe. Mit ihm wurden auch die ersten neuen Songs für das zweite Album einspielt. Im Sommer 2021 kam die erste Single-Auskopplung „Fly“, ein Jahr später folgte „Holes“. Fast noch ein Jahr später, im April 2023 war es dann soweit: „…Well For The Past“ erblickte als 4-seitges Digipak (12-seitiges Büchlein, Laufzeit 45 Minuten) das Licht der Welt. Unter dem Eindruck von Pandemie, Lockdown und Ukraine Krieg behandeln die neun Songs des Albums Themen wie Isolation, Verwirrung, Verirrung, Zeitgeist aber auch Hoffnung. Das Spiel des Vermischens ist immer noch das musikalische Erkennungsmerkmal von Dawnation. Und bei diesem zweiten Studio-Album ist nun deutlicher der musikalische Reifeprozess und die Abnabelung von der Glistening Dawn Zeit zu erkennen. Fast drei Jahre hatte das Quintett an diesem Zweitwerk gebastelt und ja schon die beiden starken Lieder „Fly“ und „Holes“ vorab veröffentlicht. Vieles ist geblieben, vieles ist neu und doch anders.
Mit Damian Krebs hatten sie nun einen hervorragenden neuen Schlagzeuger an Bord, der hier zwar erst kurz dabei schon einige Akzente setzte und frischen Wind in das Quintett brachte. Typische Dawnation Rock-Leckerbissen gibt es mit „Twisted“ und dreifach hintereinander bei „Worthless“, „Deception“, „Time“, ebenso wie auch beim instrumentalen Album-Intro „Rise“. Mit „Holes“ und „Fly“ gibt es eingängiges, poppigeres Material und mit „Between“ und „Fall“ betreten die Männer von Dawnation gänzliches Neuland. Gute Gastbeiträge von Thomas Wolter (Saxofon bei „Rise“ und „Between“), Paul Eisenach (Keyboards, Gitarre bei „Holes“), Morten Luxenburger (Gesang bei „Fall“) obendrauf. Keines ihrer vorherigen Alben hatte diese Bandbreite und Qualität. Es ist ein Meisterstück, das trotz (oder gerade wegen) der großen Verbeugung vor den Helden der Vergangenheit ein modernes, zeitloses, eigenständiges und exzellent produziertes Rock-Album geworden ist. Ein Klassiker mit Hymen aus „MeckPomm“, der nicht eine Sekunde Provinz erleben lässt, sondern eher die große weite Musik-Welt und Stadien voll mit feiernden Fans. Bei mir läuft das Album nun nonstop in der siebten Runde, lass es laufen, laufen, laufen, laufen !! Und auch hier wieder diese kreative Verspieltheit dieser Band, das Outro „Fall“ läuft und die Melodie wir vom Bass im Intro „Rise“ aufgenommen, so entsteht eine schöne Endlosschleife. Auch beim zweiten Album wollte die Band ein besonderes Cover und recherchierten deshalb wieder in der heimatlichen Kunstszene. Bert Wenndorff wurde dann auf den Neubrandenburger Grafiker Reinhard Gräfe aufmerksam, den sie besuchten. Sie erhielten von ihm die Erlaubnis, sein Bild (Das verheißt nichts Gutes für die Vergangenheit) als Cover zu nutzen. Conni Salamon, eine Grafikerin ebenso aus der Region, montierte dieses Bild (Mann mit den kleinen Jungen) in das Bild mit dem baufälligen Gang eines Video-Dreh. Das Zweitwerk „…Well For The Past“ zeigt die enorme Weiterentwicklung von Dawnation, sie haben damit ihr ureigenes Markenzeichen gefestigt.

Was kann Rockmusik mit dieser breiten Palette und Vielfalt schön sein, man spürt aus jeder Pore Leidenschaft der fünf Musiker. Es war bisher eine lange Reise vom Winter 1997 bis hierher, und ja, es war gut das Keyboarder Bert Wenndorff so kleberig war und seine Jungs wieder reaktiviert und motiviert hat. Zum Jahreswechsel 2022/23 bin ich in den Sog von Marek’s Artrock Project geraten, 2023/24 war es die Welt von Polis, Emerald Lies und Flying Circus, diesmal ist es der Strudel von „…Well For The Past“. Bei der Recherche für diese Werkschau bin ich immer wieder auf die Aussage gestoßen: „Bis heute kaum Auftrittsmöglichkeiten in der Provinz.“ Auch beim kurzweiligen Stone Prog Podcast #24 mit Marek Arnold thematisiert die Band die Situation in Neubrandenburg selbst noch einmal sehr detailliert. Dawnation: „Bandgründungen sind hier schwierig.“ Dennoch ist es gut, dass es einige aktive Menschen gibt, die auf der einen Seite mit ihrer Arbeit für Musik und der anderen mit Besuchen von Auftritten dazu beitragen das die deutschen Künstler anspruchsvoller Rockmusik weiter im Lichtkegel bleiben und vielleicht noch sichtbarer werden. Ich bin gespannt wann wir wieder etwas vom Fünfer aus Neubrandenburg hören und mit was wir dann 2026 überrascht werden.
Erster Liveauftritt der Band am 15.04.2023 beim Art Rock Festival in Reichenbach







Dawnation 2023 Neubrandenburg
