2008 erschien mit “North” das bisher letzte Studioalbum der deutschen Progband Everon. Nach siebzehn Jahren Pause erschien nun vor einigen Monaten “Shells”. Die Freude über das Comeback wurde jedoch von einem tragischen Todesfall überschattet. Renald sprach für Stone-Prog.de mit dem kreativen Kopf der Band, Oliver Philipps.

Ich habe mich, wie vermutlich viele Progfans, sehr gefreut, als ich von eurem neuen Album erfuhr. Wie kam es eigentlich dazu?
Eigentlich entstand das aus einem Scherz. Ich bin Musikproduzent und habe nie aufgehört Musik zu machen. Wir hatten ja damals mit dem Spacelab unser eigenes Studio, aber so um 2008 hat sich das nicht mehr gelohnt. Damals fingen die Bands an, ihre Sachen selbst aufzunehmen, kamen nur noch um die Songs zu mischen oder zum Beispiel die Drums aufzunehmen. Ich habe das Studio damals Moschus übergeben, eine Person konnte noch ein paar Jahre davon leben, für zwei war es zu wenig. Moschus war immer eher der Techniker, während ich mehr mit den Künstlern gearbeitet habe. Ich habe dann freiberuflich gearbeitet, als Komponist und Produzent. Ich habe Filmmusiken gemacht, arbeite aber auch mit Bands, bei denen ich schon früh in die Produktion eingebunden bin, zum Beispiel die Arrangements mache. Der Prozess, unser letztes Album „North“ zu veröffentlichen, hat insgesamt drei Jahre gedauert und ich hatte die Bindung dazu komplett verloren. Danach war ich mit dem Thema „Everon“ durch. Wir haben nie darüber gesprochen, die Band aufzulösen. Aber ich habe ja immer alle Songs gemacht, normalerweise hätte ich nach ein paar Monaten gesagt, hier sind die neuen Songs, machen wir was. Hab ich aber nicht. Ich war aber mit den anderen Themen so ausgelastet, dass ich das auch gar nicht vermisst hatte. Moschus hatte mich dann nach der E-Mail Adresse des Ansprechpartners bei Mascot gefragt, aber wegen eines völlig anderen Projektes. Ich habe dann auch mit dem Verantwortlichen bei Mascot geschrieben, es gingen ein paar Mails hin und her und dann sagte ich aus Spaß, weißt du überhaupt, dass wir noch einen Plattenvertrag haben? Wenn du so verrückt bist und es willst, würden wir vielleicht eine neue Platte machen. Er schrieb zurück, Super Idee. Ich sagte, es war nur ein Witz, ich hatte keine Idee, keine Songs. Denk mal drüber nach, war die Antwort und dann begann ich darüber nachzudenken.
Wie haben die anderen Bandmitglieder reagiert, als sie von den Plänen für ein neues Album erfuhren?
Schymy und Ulli waren sofort Feuer und Flamme. Moschus hat das zunächst eher genauso kritisch gesehen wie ich. Wen soll das nach fünfzehn Jahren noch interessieren und gibt es überhaupt ein Budget. Aber dann war das Budget da und auch er war begeistert.
Hattest du denn noch Songs für “Shells” sozusagen auf Lager?
Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet, dass sich noch irgendwer für uns interessiert. Wir waren ja nicht Pink Floyd. Und ich habe komplett bei null angefangen. Ich habe über die Jahre hunderte von Songs geschrieben, aber nichts für Everon. Aber mein Kopf funktioniert so, wenn ich an einem Projekt arbeite, dann kommen auch die Ideen. Wenn ich nichts auf dem Zettel habe, dann kommt auch nichts. Und das Songwriting lief super, es dauerte von Februar bis Mai, die Stücke haben sich sozusagen von selbst geschrieben.
Aber dann passierte etwas Tragisches….
Wir hatten gerade den letzten Song fertig gemacht, da kam die Nachricht, dass Moschus gestorben war. Wäre das früher passiert, hätte ich die Platte nicht gemacht. Jetzt will ich nicht ausschließen, dass wir weiter machen, aber sonst hätte ich das Buch nicht wieder aufgeklappt. Moschus war völlig fit. Keine ernsthaften Krankheiten und das Album hat ihm viel bedeutet. Einen Tag vor seinem Tod haben wir noch gesprochen, am nächsten rief mich seine Mutter an. Der erste Impuls war, wir lassen es sein mit dem Album. Aber ich hatte ja seine Files und von den elf Songs hatte er schon acht eingespielt. Das kannst du ja nicht wegwerfen, er wäre aus dem Grab auferstanden und hätte uns verfolgt. Die restlichen Tracks hat Jason Gianni eingespielt, ein Super Typ, ist jetzt bei Kansas und war bei Neil Morse.

Everon ist eine der Bands, die wirklich einen individuellen Sound hat, was auch an deinem Gesang liegt!
Na ja, das bedeutet ja nicht, dass jeder ihn gut findet! Ich habe im Lauf der Jahre meinen Frieden mit meiner Stimme gemacht. Ich weiß, dass ich nicht wirklich gut singen kann. Ich kenne viele gute Sänger. Nimm meine Frau Helena, die Sängerin von Imperia, die kann richtig gut singen. Meine Technik ist richtig Scheiße. Die ersten Alben, „Paradox“ zum Beispiel, kann ich mir nicht mehr anhören, ich höre mich an, als versuche ich zu klingen wie Geoff Tate. Ab „Fantasma“ hab ich dann entschieden, ich singe einfach so wie ich kann, setze mehr auf Gefühl und vergesse die Technik, weil ich eben keine habe. Mache eben aus dem Fluch einen Segen, aber das heißt nicht, dass ich mich für einen guten Sänger halte.
Du bist auch für die Musik von Everon verantwortlich…
Es ist nichts auf das ich bestehe, es wurde mir eher so zugeschoben. Als ich in die Band kam, gab es noch den Ralf, der hatte ein Output von zwei Songs im Jahr und war froh, als ich das übernahm. Und die anderen haben in diese Richtung keine Ambitionen.
Für mich klingt „Shells“ typisch nach Everon. Wie siehst du das?
Die Arrangements sind viel weiter als bei den letzten Alben. Einfach weil ich jetzt fünfzehn Jahre lang damit gearbeitet habe, mit all diesen Sounds, diese Klangfarben, das fließt jetzt alles mit zurück. Ich war auch gespannt, was nach fünfzehn Jahren für ein Album herauskommt. Ich habe schon das Gefühl, dass das Album anders ist. Meine Herangehensweise ist anders, die Sounds heute sind völlig anders, dass Gitarrentuning auch. Aber wahrscheinlich klingt es immer irgendwie nach Everon, weil mir das irgendwie in den Genen klebt, aber da ist kein Plan hinter.
Du schreibst auch die Texte, jeder Song auf “Shells” steht für sich, es ist kein Konzeptalbum.
Ich denke immer, dass der Text in die Musik bereits integriert ist. Ich muss hinterher die Worte nur herausbringen. Ich denke da nicht drüber nach, nicht bei der Musik und nicht bei den Texten. Es kommt wie es kommt und ich streite mich damit nicht. Früher habe ich viel gegrübelt und an den Texten rumgestrickt. Aber meine Erfahrung sagt, es ist wirklich am besten, wann man damit arbeitet, was einfach nur ganz natürlich aus dir herauskommt und sich richtig anfühlt ohne es zu hinterfragen. Ich setze voll auf Inspiration und Intuition und wenig aufs Denken.

Das kurze „Children Of The Earth“ fällt etwas aus dem Rahmen…
Wir hatten immer schon auch kürzere Songs, “Travelling Shoes“ zum Beispiel. Die Geschichte zu „Children of the Earth“ ist ganz einfach. Zunächst gab es die Vorgabe, dass das Album auf eine einzelne Schallplatte passen sollte. Und da brauchte ich einen kurzen Song. Aber schließlich hatten wir doch viel zu viel Musik. Wir haben dann noch einen neue Version von „Flesh“ gemacht und auf das Album genommen.
Damit bringt es “Shells” auf siebzig Minuten. Der Trend geht eher zu kürzeren Alben.
Da sind vierzig Minuten auch schon zu lang. Progressive Rock ist da noch ein spezielles Genre. Aber wenn ich zum Beispiel mit jüngeren Musikern arbeite, die machen gar keine Alben mehr, die machen einzelne Songs. In vielen Musikrichtungen verschwindet das Format „Album“. Ich habe mit einem Künstler aus der Hip Hop Szene gesprochen, da sind sogar Videos schon out. Da gibt es dann nur noch diese Tik Tok Videos und da wird die Musik dann daruntergelegt. Wie gesagt, Prog tickt da anders, aber es ist ja auch ein älteres Publikum, wobei ich überrascht war, wie viele neue Bands es in der Szene gibt, die mir richtig gut gefallen. Leprous oder die skandinavischen Bands. Das ist ja ziemlich weit weg von der Neo-Prog-Schiene, aus der ich damals kam, mit Marillion zum Beispiel.
Bis auf “North” war immer Gregory Bridges für eure Cover verantwortlich – auch jetzt wieder. War er überrascht von eurem Comeback?
Nein, er hat mich überrascht. Moschus hatte kurz vor seinem Tod mit ihm Kontakt. Er hatte auch etwas mit Grafik probiert und wollte sich ein paar Tipps holen. Ich habe Greg dann über Moschus Tod informiert und daraufhin hat Greg mir angeboten, wieder das Cover zu machen. Ich hatte ihn gar nicht auf dem Zettel, Mascot arbeiten ja mit einem Künstler zusammen, der üblicherweise das Artwork macht.
Die Reaktionen auf “Shells” waren ja sehr positiv. Hast du das erwartet?
Zunächst bin ich froh, dass wir das Album überhaupt zustande gebracht haben. Ich arbeite auf einer soliden Basis von Versagensangst. Ich glaube immer, dass etwas schief geht und bin dann froh, wenn es nicht schief geht. Wenn ich so dreißig Minuten Musik habe, dann fange ich an, mich zu entspannen. Was die Meinungen anderer angeht, davon muss sich ein Künstler frei machen. In dem Moment wo du ein Album veröffentlichst, gehört es anderen. Es gibt immer Leute die es gut finden, und Leute die es Scheiße finden. Das ist ja nicht böse, nicht richtig oder falsch. Wenn Leute einen Song gut finden, dann musst du dich nicht fühlen wie Beethoven, wenn sie ihn nicht mögen, musst du dich nicht gleich erschießen.
Hast du während der Arbeit als Produzent für andere Künstler eigentlich auch Sachen gemacht, die dir nicht gefallen haben?
Ich habe es relativ selten erlebt, dass ich etwas davon nicht gemocht habe. Ich habe sogar Black Metal gemacht, eine Musikrichtung mit der ich nun eigentlich nichts zu tun habe. Aber wenn du dich darauf einlässt, so für sechs bis acht Wochen ist das völlig ok. Man muss verstehen, welche Vision der Künstler hat und das umsetzen und in dieser Periode lebst du darin. Genres existieren eigentlich nicht für mich. Ich unterscheide Musik eigentlich nur in finde ich schön oder finde ich nicht schön. Als in den Neunzigern Black und Death – Metal das große Ding waren, und wir hatten manchmal fünf, sechs Bands davon nacheinander im Studio, dann ist es auch wieder schön, mal etwas anderes zu machen. Ich hatte einmal nach einer Black Metal Band eine Produktion mit einem amerikanisches Klassiktrio. Das Lustige ist, dass die Motivation und der Charakter dahinter viel ähnlicher sind, als man glauben könnte. Die Ausdrucksform ist natürlich eine völlig andere, aber sie haben viel mehr gemeinsam als das, was sie trennt. Immer natürlich vorausgesetzt, das Thema ist vernünftig ausgeführt. Da gibt es objektive Standards, die Leute können spielen, es ist vernünftig produziert, soweit alles richtig gemacht und es gibt einen Grund, dass auf CD zu pressen. Aber ob dir dann die Musik gefällt oder nicht, ist rein subjektiv.

Du hast ja nicht ausgeschlossen, dass ihr weiter macht. Aber bis zu einem nächsten Album dauert es nicht wieder so lange?
Das wäre schon recht optimistisch hinsichtlich der Lebenserwartung. Aber wenn das neue Album nicht komplett auf taube Ohren stößt, sehe ich keinen Grund nicht relativ zügig eine weitere Platte zu machen.
Wie sieht es mit Liveaktivitäten aus?
Everon waren nie die aktivste Liiveband, das geht auf mich. Ich bin nicht der Bühnentyp, ich bin keine Rampensau, mein Ding ist komponieren, arrangieren, produzieren. Ich fühle mich relativ unwohl auf der Bühne. Wir haben darüber gesprochen und es gibt auch Interesse von Festivals, aber das wäre schon ein Akt. Auch besonders weil Moschus nicht mehr da ist, er war ja nicht nur Schlagzeuger, sondern auch Technik-Genie. Und unsere Musik stellst du nicht mal schnell so einfach auf die Bühne. Und für die komplexen Arrangements bräuchte man vermutlich zwei zusätzliche Musiker. Es wäre auch viel Logistik. Und wir sind auch keine Band, die jetzt drei Mal pro Woche im Proberaum war. Ich will es aber nicht ausschließen, ich schließe gar nichts mehr aus, aber es wäre eben nicht mal eben so zu machen. Was Arjen Lucassen macht, finde ich super. Er spielt ja auch nicht so gerne live, veranstaltet aber jährlich diese Events. Aber da muss eben auch Interesse da sein und ein Rahmen, der das hergibt.
Sind eure alten Alben eigentlich noch erhältlich?
Unser Backkatalog läuft noch ganz gut, das war sicher auch ein Grund, dass Mascot zugestimmt haben.
Die heutige Musikszene ist sehr schnelllebig. Man erinnert sich ja kaum, was vor einem Jahr angesagt war. Es scheint keinen Künstler zu geben, der das Potenzial einer Tina Turner oder eines Joe Cockers hat, oder kein Album wie “The Dark Side Of The Moon”.
Um in der Vergangenheit eine Platte machen zu können, musste man ja schon an vielen Gatekeepern vorbei. Ein Plattenfirma finden und dann die Erlaubnis bekommen in einem dieser Studios arbeiten zu können. Oder du machtest Demos und die klagen dann auch wie Demos, die klangen Scheiße. Heute leben wir in einer anderen Welt. Jeder ist in der Lage, eine Album aufzunehmen, dass einigermaßen vernünftig klingt. Natürlich gibt es Unterschiede, aber der Unterschied zwischen teuer und gut und dem, was man selber hinkriegt, ist viel kleiner als früher. Und jeder hat auch die Möglichkeit, seine Musik zu veröffentlichen, mit Plattformen wie YouTube. Mit Tina Turner haben nur Topleute zusammen gearbeitet, es war ja Budget ohne Ende da. Aber ich glaube dennoch, dass auch heute noch wunderbare Musik gemacht wird. Und als „The Dark Side Of The Moon“ erschien, wusste ja auch keiner, was mal daraus werden würde. Als wir uns früher eine Platte gekauft haben, da hast du die zig Mal gehört, das war ein Event. Wenn du heute was auf Spotify hörst und es gefällt dir nicht, hörst du das nächste. Meine Lieblingsalben sind alles Alben, die nicht sofort beim ersten Mal gezündet haben. Man muss sie öfter hören, aber dann bleiben sie fürs Leben. Wenn dir ein Album sofort gefällt, ist es beim dritten Hören nur noch so la la. Und heute ist es so, dass du bei Popmusik mit einer Aufmerksamkeitsspanne von dreißig Sekunden rechnest. Du musst in dreißig Sekunden alles verblasen haben, was einen Song ausmacht. Heute haben viele Songs nicht mal mehr das Strophe – Brücke – Refrain Format. Es ist oft nur noch eine durchgängige Akkordfolge, es wird nur die Melodie darüber gelegt und das Arrangement etwas variiert, weil man dem Hörer in minimaler Zeit etwas einhämmern will. Schön, dass es Künstler wie Devin Townsend gibt. Der macht eine Industrial Metal Platte und eine Woche später „Casualties of Cool“. Der verweigert sich ja wirklich jeglicher Anforderung, dass er nach irgendwas zu klingen hat. Und er schafft es trotzdem, damit eine Karriere zu haben.