Wenn man Freunden Progressive Rock erklärt, nennt man meist vier Bands, auf deren Musik dieser Begriff fußt. Also Genesis, King Crimson, Pink Floyd und Yes (in alphabetischer Reihenfolge). Meines Wissens gibt es nur einen Musiker, der in drei dieser vier Musikinstitutionen gespielt und zwei davon wesentlich mitgeprägt hat. Zwei Beispiele: „Red“ ist mein Lieblingsalbum von King Crimson, und „Close To The Edge“ von Yes wird von nicht wenigen Fans des Prog Rock als das beste und vollkommenste Werk der gesamten Musikgeschichte angehimmelt. Es geht um den Drummer Bill Bruford, der unter anderem diese beiden Alben mit eingespielt hat. Der Legendenstatus von Bill Bruford speziell im Prog-Bereich kann nicht hoch genug bewertet werden. Er war Drummer in etlichen weiteren Bands und Projekten (unter anderem als Live-Drummer bei Genesis in den 70ern und als Mitglied in der im Prog auch hierzulande nicht ganz unbekannten Supergroup UK), ist immer eigene Wege gegangen und hat überraschende Entscheidungen getroffen. Eine davon war, 2009 in den musikalischen Ruhestand zu gehen, eine weitere, 2024 diesen wieder zu beenden und mit dem Pete Roth Trio wieder Konzerte zu geben.

Und eines dieser Konzerte führt ihn mit genau diesem Pete Roth Trio heute in das sächsische Prog-Mekka Reichenbach. Erfreulicherweise wurde die Entscheidung getroffen, dieses besondere Konzert nicht im kleinen Bergkeller durchzuführen, sondern im Neuberinhaus. Diese Spielstätte ist den Prog-Fans ja durch die jährlichen Art Rock Festivals wohlbekannt. Ein erster Blick in den großen Saal erzeugt ein gewisses Staunen in den Gesichtern der Anwesenden: In der Mitte des Zuschauerraumes steht eine viereckige Bühne, und rings herum sind locker ein paar Konzertstühle aufgestellt. Diese besondere Atmosphäre wird diesem besonderen Konzert in großartiger Weise gerecht.

Wie erwartet hören wir ein pures Jazz-Konzert. Nicht primär melodisch, nicht primär jazziges Chaos, die Musik spielt irgendwo dazwischen und von allem etwas. Auffällig ist die sehr warm klingende Gitarre von Pete Roth, die wunderbar stimmig mit dem Bass von Mike Pratt harmoniert. Das Ganze wird vom feinen Schlagzeug von Bill Bruford eher zurückhaltend umspielt. Der Auftritt wirkt entspannt und voller Spielfreude. Die Herren stellen das Trio in den Vordergrund, in dem jeder seinen spielerisch gleichwertigen Anteil hat. Irgendwelcher Personenkult zugunsten des Schlagzeugers bleibt erfreulicherweise aus. Der in Deutschland geborene Pete Roth moderiert in fließendem Deutsch und kündigt das eine oder andere von Bill Bruford komponierte Stück an. Verweise auf Werke aus der Mitgliedschaft der oben genannten Gruppen gibt es dabei nicht. Auch wenn so mancher Anwesende kein Jazz-Fan ist: Prog-Fans kleben mit ihren Augen an der freundlichen Mimik und den Trommelstöcken von Bill Bruford und genießen jede Sekunde seines Spiels. Nach zwei Stunden, zwei Konzertteilen inklusive einer Zugabe, ist der Abend zu Ende.


Eigenartigerweise sind nicht einmal 100 Fans in Reichenbach anwesend. Die Frage, die gestellt werden muss: Wo sind heute die vielen Fans von Yes, King Crimson oder Genesis? Die abwesenden Fans lassen sich heute die wohl einmalige Chance entgehen, „the one and only“ Bill Bruford in Sachsen spielen zu sehen. Schade, eine Anerkennung von einem größerem Publikum hätte den schönen entspannten Abend besser würdigen können. Auch der Autor dieser Zeilen hat seinen Terminkalender nahezu verbogen, um heute hier dabei sein zu können. Man muss doch die Feste feiern, wie sie fallen!


Was sich die Fans der Drumlegende erhoffen, tritt vielleicht 15 Minuten nach Konzertende in Reichenbach tatsächlich ein: Bill Bruford kommt für Autogramme und Fotos noch einmal in den Saal. Nach anderen Konzerten in Deutschland fand dieser persönliche Kontakt zu den Fans nicht statt. Seiner Bitte, eine Reihe zu bilden und die mitgebrachten und zu signierenden musikalischen Artefakte auf maximal drei Artikel pro Fan zu begrenzen, kommen die Fans vor lauter Aufregung nur zögerlich nach. Aber Bill bleibt entspannt und lächelt brav in die Kameras, denn die Anzahl derer, die ein Autogramm oder ein Foto möchten, bleibt überschaubar. Glücklich und zufrieden nach diesem rundum kompletten Konzertabend treten wir die nächtliche Heimfahrt an. Bill Bruford hat gespielt – und wir waren dabei!
Weiterführende Infos zu dieser Band findet Ihr unter peterothtrio.com.
